• Medizin trifft Kunst

Heilende Kunst – von der Antike bis in die Neuzeit

Schon in der Antike und im Mittelalter wurde der Musik eine therapeutische Wirkung zugeschrieben. Dass nicht nur die Musik, sondern auch andere Künste eine positive Wirkung auf Körper und Geist haben, zeigen wissenschaftliche Studien. Eine Einführung.

Apollon vereint Kunst und Medizin in sich: In der griechischen und römischen Mythologie ist er sowohl der Gott der Künste als auch der Heilung. Bild: Adobe Stock/Dimitrios
Apollon vereint Kunst und Medizin in sich: In der griechischen und römischen Mythologie ist er sowohl der Gott der Künste als auch der Heilung. Bild: Adobe Stock/Dimitrios

Eine Frau ist nach einem schweren Autounfall traumatisiert, leidet unter Schlafstörungen und Alpträumen. Sie beginnt, den Unfall mit Gedichten zu umschreiben – und zwar aus allen Perspektiven. Aus ihrer, aus der ihrer Beifahrerin, aus der des Zeugen, schliesslich aus der eines Vogels. Die verschiedenen Blickwinkel lassen das Trauma schrumpfen, die Erinnerung verliert ihren Schrecken, sie fühlt sich wieder sicher und seelisch gesundet.

Kaum genutzte Synergien

Poesie kann heilen. Musik ebenso. Versuchen Sie es: Beim Hören des langsamen Satzes aus Beethovens Neunter Sinfonie reguliert sich der Blutdruck, verändern sich Herzschlag und Atmung [1]. Ruhige und langsame Musik fördert die Entspannung, während schnelle und rhythmische Musik das Energieniveau steigern kann.

Kunst und Medizin haben einen wichtigen Stellenwert in unserer Gesellschaft, aber die offensichtlichen Synergien beider Bereiche werden bisher nicht ausgeschöpft, und die Barrieren für kulturelle Teilhabe sind für viele Bevölkerungsschichten hoch. Konzerte, Theater, Museen, Bücher bieten bereichernde und beglückende Erfahrungen und sind zweifellos «nice to have». Darüber hinaus aber, und dies ist viel zu wenig bekannt, können Musik, Malerei, Tanz und Literatur die Gesundheit verbessern und zur Heilung beitragen.

Medizin trifft Kunst

Die Verbindung von Kunst und Medizin hat eine lange Tradition; schon in der Antike galt die Kraft der Musik als heilend. Die Serie «Medizin trifft Kunst» widmet sich den vielfältigen Aspekten dieser Beziehung.

Verschieden, und doch eng verbunden

Medizin und Kunst erscheinen getrennt mit völlig unterschiedlichen Ansätzen. Der eine, so heisst es, sei naturwissenschaftlich effizient, sachlich ausdifferenziert, nüchtern; der andere fantasievoll, mit vielschichtigen Kriterien bewertet und wenig substanziell in der Wirkungsweise. Ein Irrtum! Beide Bereiche waren in der Medizingeschichte lange traditionell eng verbunden, wie der Ausdruck «Heilkunst» aufzeigt. In der Antike war der Gott Apollon für beides zuständig, als Gott der Künste und der Heilung. Philosophen postulierten schon damals den Zusammenhang zwischen Psyche und Musik: Pythagoras sprach von der Ordnung des chaotischen Seelenlebens von Musik, Platon von Heilung als Wiederherstellung von Harmonie und Aristoteles von musikalischer Katharsis.

Mittelalterliches Medizinstudium mit Musik

Im Mittelalter hatten Musik und Medizin eine enge Verbindung. Musik gehörte sogar zum Fächerkanon des Medizinstudiums und wurde nicht nur als Kunstform geschätzt, sondern auch als ein Weg, um Körper und Geist zu heilen im Kontext von religiösen und heilkundlichen Praktiken. Es gab die weit verbreitete Annahme, dass Musik den Körper beeinflussen und das Wohlbefinden fördern könne. Verschiedene musikalische Melodien und Rhythmen wurden genutzt, um die «Humores» (die vier Körpersäfte) ins Gleichgewicht zu bringen – eine gängige Theorie in der antiken und mittelalterlichen Medizin. Unter anderen Hildegard von Bingen, eine der bekanntesten Heilkundigen des Mittelalters, verband Musik mit Heilmethoden. Sie komponierte nicht nur liturgische Gesänge, sondern schrieb auch über die heilende Kraft von Musik und glaubte, dass Musik die Seele heilen und körperliche Gesundheit fördern könne.

Bedeutungsverlust und Renaissance

Im 18. und 19. Jahrhundert, dem Beginn der modernen naturwissenschaftlich begründeten Medizin, verlor Kunsttherapie weitgehend an Bedeutung, wurde allerdings weiterhin bei psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt. Ab ungefähr 1950 kann man von einer Renaissance sprechen, basierend auf innovativen Entwicklungen in der Medizin. Die physiologischen Mechanismen von Kunstexposition können immer besser untersucht werden, und moderne bildgebende Verfahren erlauben die Visualisierung von Gehirnaktivierung.

Für Babys und Erwachsene

Mittlerweile zeigen viele wissenschaftliche Studien einen gesundheitlichen Nutzen von künstlerischen Therapien. Musik wird in der Neonatologie eingesetzt, selbstverständlich mit Harfe und Laute, nicht mit Posaune und Pauke. Die Frühchen reagieren erstaunlich mit Kopfbewegungen, die feinen Klänge haben positive Auswirkungen auf die Sauerstoffsättigung und die Lungenreifung, und die Verweildauer in der Klinik verkürzt sich [2]. Manche Rehabilitationszentren bieten für Patientinnen und Patienten mit Krebs-, Herz-Kreislauf- oder neurologischen Erkrankungen regelmässig Mal-Workshops, Klangmeditationen und Tanztherapien an.

Künstlerische Therapien haben viel zu bieten für Patientinnen und Patienten, die Diagnosen sind unterschiedlich, die Krankheitsbilder ebenso [3–9]. Kunst nutzt aber auch den Mitarbeitenden in gesundheitlichen Berufen als Ressource, und nicht nur ihnen. Kunst kann vielen Menschen verschiedener Lebensformen und Berufe helfen, nicht zu erkranken oder mit bestehenden gesundheitlichen Problemen besser umzugehen.

Auch bauliche Aspekte sind wichtig

In diesem Kontext haben auch Architektur, die Gestaltung von Krankenhäusern, Gesundheitseinrichtungen und Park- und Gartenanlagen eine besondere Bedeutung. Licht, Formen, Farben, Perspektiven und Raumgestaltung spielen für Heilungsprozesse eine wichtige Rolle. Aber es gibt bisher nur wenige Kliniken, die solche baulichen und atmosphärischen Aspekte berücksichtigen. Die meisten Klinikbauten sind nüchtern und funktional konzipiert, haben den zweifelhaften Charme von Fabriken mit abwaschbaren weiss gestrichenen Wänden, Behördenfussbodenbelägen, kühl flimmerndem Neonlicht.

Auswirkung auf Betroffene und Mitarbeitende

Es ist höchste Zeit, diese Themen voranzubringen. Vor allem im Sinne von Patientinnen und Patienten mit chronischen oder lebensbedrohlichen Erkrankungen. Hier geht es neben der bestmöglichen konventionellen Therapie auch um verbesserte Lebensqualität, um sinnstiftende Perspektiven, Mobilisierung der persönlichen emotionalen Ressourcen. Besonders deutlich sind diese Bedürfnisse, wenn man Betroffene fragt, welches Ambiente und welche Betreuung sie sich beim Sterben wünschen. Aber auch für die Mitarbeitenden in Gesundheitsberufen und anderen Sektoren haben künstlerische Angebote einen hohen Stellenwert.

Wie steht es mit der Kosteneffektivität?

Mit Hinblick auf eine konsequente Etablierung von Kunst in der Medizin könnte der Einwand kommen, dass hierdurch bestimmt weitere Kosten auf das Gesundheitssystem zukämen. Zur definitiven Klärung wären gesundheitsökonomische Analysen notwendig, die den Aufwand z. B. durch Kunsttherapien ins Verhältnis setzen zum gesundheitlichen Nutzen. Bisherige Einschätzungen deuten eine hohe Kosteneffektivität an, d. h. die Investitionen sind lohnend. Zudem kann die Integration von Kunst in Krankenhäusern nicht nur Patientinnen und Patienten helfen, sondern auch die Zufriedenheit und Resilienz von Mitarbeitenden stärken – Kunst als kompetitiver Vorteil im Wettbewerb klinischer Einrichtungen.

Weit mehr als Unterhaltung

Fazit: Klinische Erfahrung und Forschungsergebnisse zeigen, dass Künste nicht nur das emotionale Wohlbefinden steigern, sondern auch eine Vielzahl von positiven Auswirkungen für Patientinnen und Patienten haben. Als ganzheitliche Heilungsstrategie wird Kunsttherapie in immer mehr Bereichen der Gesundheitsversorgung genutzt, und ihre Wirkungen auf die Seele und den Körper sind ein wichtiges Forschungs- und Anwendungsfeld. Die Schnittstellen zwischen Kunst und Medizin deuten darauf hin, dass Kunst weit mehr ist als nur Unterhaltung. Kunsttherapeutische Anwendungen eröffnen zahlreiche Möglichkeiten in der modernen medizinischen Praxis.

Literatur

  1. Bernardi L, Porta C, Casucci G, Balsamo R, Bernardi NF, Fogari R, Sleight P (2009) Dynamic interactions between musical, cardiovascular, and cerebral rhythms in humans, Circulation, 119:3171–80.
  2. Standley JM (2002) A meta-analysis of the efficacy of music therapy for premature infants, J Pediatr Nurs,17:107–13.
  3. Bradt J, Dileon C, Myers-Coffman K, Biondo J (2021) Music interventions for improving psychological and physical outcomes in people with cancer, Cochrane Database Syst Rev, 10:CD006911.
  4. Cassola EG, Santos LCD, Ferreira MSC, Correa Barbosa G, Betini M, Domingos TDS (2024) Systematic Review of Music Therapy and Musical Interventions for Patients with Moderate and Severe Mental Disorders, J Integr Complement Med, 30:819–31.
  5. Ghetti C, Chen XJ, Brenner AK, Hakvoort LG, Lien L, Fachner J, Gold C (2022) Music therapy for people with substance use disorders, Cochrane Database Syst Rev, 5:CD012576.
  6. Jespersen KV, Pando-Naude V, Koenig J, Jennum P, Vuust P (2022) Listening to music for insomnia in adults, Cochrane Database Syst Rev, 8(8):CD010459.
  7. Trappe HJ (2017) Musik und Herz. Kardiologe, 11:486–96 .
  8. Matziorinis AM, Koelsch S (2022) The promise of music therapy for Alzheimer’s disease: A review. Ann N Y Acad Sci 1516(1):11–7.
  9. Joschko R, Klatte C, Grabowska WA, Roll S, Berghöfer A, Willich SN (2024) Active visual art therapy and health outcomes: a systematic review and meta-analysis. JAMA Net Open 7:e2428709.