• Medizin trifft Kunst

Zeichnen, wenn die Worte fehlen

Für Jlona Dreyer, die mit ADHS und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung lebt, war das Zeichnen seit jeher ein Weg, ihre Konzentration zu bündeln und ihre Gefühle auszudrücken. Seit sie das Zeichnen zu ihrem Beruf gemacht hat, geht es ihr besser denn je.

Jlona Dreyer fühlte sich oft innerlich leer und brachte dies zu Papier. Bild: Cat Velvet Art
Jlona Dreyer fühlte sich oft innerlich leer und brachte dies zu Papier. Bild: Cat Velvet Art

«Wäre nicht Tätowiererin etwas für dich?» Dieser Satz ihres Gestaltungstherapeuten veränderte das Leben von Jlona Dreyer nachhaltig. Denn bis zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2020 war der schulische und berufliche Werdegang von Jlona Dreyer vor allem eines gewesen: schwierig.

«Angst vor mir selbst»

Schon im Kindergarten hatte sie sich fehl am Platz gefühlt, anders, leer. In der Schule war das Problem der Konzentration hinzugekommen. Richtig aufnahmefähig war sie nur, wenn sie nebenbei ihr Heft vollkritzelte – etwas, was ihre Lehrerinnen und Lehrer nicht gern sahen. Zwar schloss sie nach der obligatorischen Schulzeit ihre Lehre als Köchin ab, arbeitete jedoch keinen einzigen Tag auf ihrem Beruf, jobbte mal hier und mal da. Gut ging es ihr dabei nicht. Sie fühlte sich leer, traurig, empfand das Leben als unglaublich anstrengend. Während sie für eine Fassadenbaufirma Tag für Tag Isolationsteile mit der Kreissäge zuschnitt, überlegte sie sich ab und zu, wie es wäre, sich selbst auf die Kreissäge zu legen. «Der Gedanke, dass es dann einfach vorbei wäre, wirkte verlockend. Und gleichzeitig bekam ich Angst vor mir selbst.»

Diagnose wirkte befreiend

Jlona Dreyer merkte: So kann es nicht weitergehen. Sie begann, sich zu informieren, suchte eine Therapeutin auf und erhielt mit 28 Jahren die Diagnosen Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Gewissheit veränderte zwar ihren aktuellen Zustand nicht, wirkte aber dennoch befreiend: «Ich wusste nun: Ich bin nicht falsch oder ein schlechter Mensch.» Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass dies kein vorübergehender Zustand ist und sie lernen muss, damit umzugehen.

Gefühle über Kunst ausdrücken

Während zweier Klinikaufenthalte im Abstand von zwei Jahren machte sie verschiedenste Therapien, darunter auch eine Kunst- und eine Gestaltungstherapie. Während die Kunsttherapie vor allem darauf ausgelegt gewesen sei, sich über Bilder und Farben mit sich selbst zu beschäftigen und sehr schnell tiefgründig wurde, sei sie bei der Gestaltungstherapie freier gewesen, was ihr sehr entsprach. «Ich war seit jeher kreativ, habe gern gebastelt, gemalt und insbesondere gezeichnet. Beim Zeichnen konnte ich mich nicht nur besser konzentrieren, sondern auch meine Gefühle ausdrücken, wenn mir die Worte dazu fehlten.» Ihre Kunst zum Beruf zu machen, hatte sie sich aber nie getraut – bis zu dem Tag, als ihr Gestaltungstherapeut sie darauf ansprach. «Dass ein Profi mir das zutraute, gab mir den Anstoss, den ich brauchte.»

Medizin trifft Kunst

Die Verbindung von Kunst und Medizin hat eine lange Tradition; schon in der Antike galt die Kraft der Musik als heilend. Die Serie «Medizin trifft Kunst» widmet sich den vielfältigen Aspekten dieser Beziehung.

Üben an den eigenen Beinen

Sie liess sich von einem Bekannten ausbilden, bei dem sie sich selbst schon hatte tätowieren lassen, schaute viel zu und übte an ihren eigenen Beinen. «Dabei kam mir sicher zugute, dass ich keine Mühe habe, mir selbst wehzutun», sagt Jlona Dreyer scherzend, beschwichtigt aber gleich wieder. Denn obwohl mit dem Schritt in die Selbstständigkeit ganz neue Herausforderungen zu bewältigen sind – Finanzen, Selbstzweifel und Kontakt mit anspruchsvollen Kundinnen und Kunden sind nur einige Stichworte – und auch wenn sie es immer noch anstrengend findet, dass ihre Emotionen oft einer Achterbahnfahrt gleichen, fühlt sie sich nicht mehr verloren; der Drang, sich selbst zu verletzen, ist fast verschwunden. Sie kann der ADHS und der BPS sogar positive Seiten abgewinnen; so etwa den Hyperfokus, der ihr beim Tätowieren nützt, oder die intensiven Gefühle. «Ich erlebe auch die positiven Gefühle stärker als andere Menschen. Und wenn ich für eine Person ein Motiv zeichne und dieses dann auf ihrer Haut sehe, freue ich mich wie ein kleines Kind.»

Fokussiertes Arbeiten und tiefe Gespräche: Beides gehört zum Arbeitsalltag von Jlona Dreyer dazu. Bild: zvg

Tiefe Gespräche im Studio

Mit ihrer beruflichen Entwicklung hat sich auch Jlona Dreyers Verhältnis zum Zeichnen verändert. War es früher vor allem ein Ventil und eine Strategie, um laute Gedanken und starke Emotionen zu bewältigen, zeichnet sie heute meist auf Auftrag. Umso schöner findet sie es dann, wenn sie mit ihren Motiven Menschen begleiten kann, die auch mit sich hadern oder eine schwierige Phase durchmachen. Und davon erzählen ihr ihre Kundinnen und Kunden oft recht offenherzig. «Ich bin nicht gut im Smalltalken. Aber wenn jemand einige Stunden bei mir auf dem Schragen liegt, werden die Gespräche oft tief.» Dass sie selbst sehr offen mit ihren Problemen umgehe, trage sicher auch dazu bei, vielleicht ziehe auch dies manchmal Kundinnen und Kunden an. Denn nicht selten kommen Menschen vorbei mit Narben, die von selbst zugefügten Verletzungen stammen. «Wenn ich helfen kann, aus diesen Narben etwas Schönes zu kreieren, dann bin ich glücklich.»

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