- Andere Länder – andere Medizin?
«Niemand verlässt das Schiff ganz unverändert»
Einmal pro Jahr verbringt der Chirurg Konrad Mende einen Teil seiner Ferien auf einem Spitalschiff der Organisation Mercy Ships an der westafrikanischen Küste. Was er dort antrifft, sind oft bekannte Erkrankungen, jedoch in einem für westliche Verhältnisse unbekannten Ausmass.
20.08.2024
Konrad Mende, Sie waren bereits 13-mal für Mercy Ships im Einsatz, zuletzt diesen Frühling für zwei Wochen in Madagaskar. Wie schwierig ist es, sich in so kurzer Zeit an ein neues Setting zu gewöhnen und mit unbekannten Menschen zusammenzuarbeiten?
Da ich schon in England und Australien gearbeitet sowie in Frankreich und Südamerika studiert habe und deshalb verschiedene Gesundheitssysteme kenne, fällt es mir leicht, mich rasch auf andere Verhältnisse einzustellen. Zudem ist der medizinische Teil auf den Spitalschiffen von Mercy Ships (siehe auch Kasten, Anm. d. Red.) stark westlich geprägt: Die Einrichtung ist vergleichbar mit den Spitälern in der Schweiz, die Abläufe sind stark amerikanisch und britisch beeinflusst, beinahe alle sprechen Englisch oder Französisch. Aber manchmal kommt es schon auch zu interessanten Diskussionen, beispielsweise im Operationssaal, wenn der Begriff für eine einfache Sache wie eine Kompresse je nach Variante des Englischen «compress», «swab», «gauze» oder sonst was ist. Dies führt zu lustigen Situationen, in der Regel ist die Kommunikation aber ausgezeichnet.
Mit dem Spitalschiff von Land zu Land
Die Hilfsorganisation Mercy Ships wurde 1978 in Lausanne mit dem Ziel gegründet, Menschen in unterversorgten Gebieten einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung zu geben. Seit 1990 widmet sie ihre Aufmerksamkeit dem afrikanischen Kontinent, insbesondere Westafrika. Auf zwei Spitalschiffen sind jährlich rund 2500 Freiwillige im Einsatz, die über 2000 kostenlose chirurgische und 8000 zahnärztliche Eingriffe vornehmen. Daneben bietet Mercy Ships lokalen Gesundheitsfachkräften Weiterbildungen an und arbeitet eng mit den Behörden des jeweiligen Gastlandes sowie mit einheimischen Ärztinnen und Ärzten zusammen, um medizinische Infrastruktur zu sanieren und Lücken in der Gesundheitsversorgung zu schliessen.
Wie verständigen Sie sich mit Patientinnen und Patienten? Neben den sprachlichen Barrieren gibt es ja vermutlich auch kulturelle Hürden.
In vielen westafrikanischen Ländern ist Englisch oder Französisch eine der Hauptsprachen, deshalb können wir oft direkt mit den Patientinnen und Patienten kommunizieren. Ist dies nicht der Fall, haben wir stets Personen aus dem Gastland da, die dolmetschen können. Auch gibt es auf den Schiffen, die jeweils ein Jahr am selben Ort bleiben, immer Langzeitangestellte aus dem Gastland. Mit deren Unterstützung können wir auch kulturellen Hürden begegnen. Denn oft kommen die Menschen, die Hilfe suchen, aus weit entfernten, ländlichen Regionen und waren noch nie im Spital. Und plötzlich sind sie dann mitten in einem westlich geprägten Kontext mit klimatisierten Räumen und grellem Spitallicht, das ist gewöhnungsbedürftig. Die Kommunikation mit den Betroffenen und ihren Angehörigen sowie die Information über unser Vorgehen, die zu erwartenden Ergebnisse und die Nachsorge sind deshalb extrem wichtig. Im Allgemeinen funktioniert dies sehr gut, denn bislang habe ich auf dem Schiff kaum ernsthafte Konflikte erlebt, auch dann nicht, wenn das christlich-westlich geprägte Schiff in muslimischen Ländern anlegt.
Welche Krankheitsbilder treffen Sie hauptsächlich an?
Auf dem Schiff vertreten ist ein kleines, ausgewähltes Spektrum an chirurgischen Fachrichtungen. Dementsprechend werden die Patientinnen und Patienten ausgewählt. Speziell ist, dass wir in der plastischen Chirurgie nicht unbedingt Erkrankungen sehen, die wir in der Schweiz gar nicht kennen. Häufig behandeln wir an sich nicht schwerwiegende Sachen wie Lipome und andere gutartige Tumore. Jedoch sehen wir, was geschieht, wenn die Gesundheitsversorgung nicht oder nicht ausreichend vorhanden ist oder die Betroffenen keinen Zugang dazu haben. Das Ausmass dieser Tumore ist oft riesig, manche wiegen bis zu 15 Kilogramm. Insbesondere im Kopf- und Halsbereich stören diese nicht nur ästhetisch, sondern können auch lebensbedrohlich sein, da sie die Atemwege verengen oder die Nahrungsaufnahme behindern. Auch unbehandelte angeborene Fehlbildungen können nicht nur funktionelle, sondern auch massive psychosoziale Auswirkungen haben. Und da in vielen afrikanischen Ländern noch oft am offenen Feuer gekocht wird, machen ungenügend behandelte Verbrennungen mit schweren Kontrakturen einen Grossteil unserer Fälle aus.
Was reizt Sie daran, regelmässig einen Teil Ihrer Ferien auf einem Spitalschiff zu verbringen?
Ein Kollege von mir hat einmal gesagt, ein Einsatz auf den Mercy Ships sei ein «Urlaub für die Seele». Das ist so. Auf dem Schiff, auf dem viele Freiwillige arbeiten, herrscht eine einzigartige Atmosphäre. Niemand – weder das medizinische Personal noch die Patientinnen und Patienten – verlässt das Schiff ganz unverändert. Viele Menschen, die zu uns kommen, leben seit Jahren zurückgezogen und sind aufgrund ihres Äusseren oder weil sie nicht arbeitsfähig sind, stigmatisiert, ausgestossen und sozial geächtet. Während der wenigen Wochen, die sie bei uns verbringen, sehen wir neben der medizinischen Transformation oft auch eine innere Veränderung: Wenn sie uns verlassen, beginnen sie ein neues Leben. Und wenn ich sehe, dass ich mit meinen Mitteln etwas dazu beitragen konnte, ist das extrem befriedigend.
Gibt es auch schwierige Momente?
Ja, denn wir können nicht allen helfen. Bei meinem ersten Einsatz war ich bei einem Screening dabei. An einem Tag sind 4000 Menschen gekommen, die auf Hilfe hofften. Von diesen konnten nur etwa 60 für die chirurgische Behandlung ausgewählt werden. Das ist natürlich sehr hart. Aber sowohl unsere Ressourcen als auch unser Spektrum sind begrenzt. Menschen mit internistischen oder onkologischen Beschwerden können wir nicht versorgen. Mercy Ships bietet jedoch einen psychologischen Support, damit diese Menschen nicht ganz allein gelassen werden.
Zur Person
Konrad Mende wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Muri bei Bern. Seine Ausbildung zum Facharzt Plastische Chirurgie und Handchirurgie hat er in den frühen 2000er-Jahren in Lausanne begonnen. Nach verschiedenen Stationen in der West- und der Deutschschweiz, in Australien und in England sowie knapp sechs Jahren als Oberarzt am Universitätsspital und Kinderspital in Basel arbeitet er seit 2024 selbstständig als Belegarzt in Bern.
Gibt es Aspekte der Gesundheitsversorgung in afrikanischen Ländern, die Ihnen besser gefallen als in der Schweiz?
Da ich auf dem Schiff tätig bin, habe ich keinen direkten Einblick in die Gesundheitssysteme der jeweiligen Länder, zudem gibt es je nach Region sehr grosse Unterschiede. Ich komme auf dem Schiff jedoch immer wieder in Kontakt mit afrikanischen Kolleginnen und Kollegen. Was ich generell von ihnen lernen kann, ist, dass sie viel breiter aufgestellt sind und fachlich ein sehr grosses Spektrum abdecken. Ebenfalls ist es eindrücklich, zu sehen, wie sie mit wenigen Mitteln sehr viel machen.
Gibt es auch etwas aus der Schweiz, das Sie bei Ihren Einsätzen weitergeben?
Die medizinische Qualität auf dem Schiff ist auf einem hohen Niveau und vergleichbar mit derjenigen in der Schweiz, deswegen bringe ich da keine speziell schweizerischen Aspekte ein. Einzig bei der Pünktlichkeit bemerke ich immer wieder einige Unterschiede, aber da passe ich mich an. Dennoch gibt es etwas aus der Schweiz, das ich tatsächlich immer mitnehme und das für gute Stimmung sorgt: viel Schokolade.
Ein Blick über den Gartenzaun
In der losen Serie «Andere Länder – andere Medizin?» sprechen wir mit Ärztinnen und Ärzten, die während einer gewissen Zeit im Ausland arbeite(te)n. Welche Erfahrungen haben sie dabei gemacht? Was läuft besser, was schlechter als in der Schweiz?
Ärztinnen und Ärzte, die über ihre eigenen Erfahrungen berichten möchten, dürfen sich gerne bei der Redaktion melden: journal@vsao.ch