- Andere Länder – andere Medizin?
«Die Work-Life-Balance haben die Schweden besser im Griff»
Simon Gründler studiert im vierten Jahr Medizin und hat diesen Sommer ein Forschungspraktikum in Schweden absolviert. Im Interview erzählt er vom schönen schwedischen Sommer und den hervorragenden Arbeitsbedingungen am Karolinska-Institut.
10.12.2024
Du hast zwei Monate in Schweden verbracht. Was hast du dort gemacht?
Ich verbrachte die Monate Mai und Juni in Solna bei Stockholm am Karolinska-Institut , wo ich ein Forschungspraktikum absolvierte. Ich war Teil einer Gruppe der Kinderchirurgie, die sich mit dem Züchten von Gewebe beschäftigte. Dieses wird zum Beispiel bei Mädchen eingesetzt, denen grosse Teile der Vagina fehlen. Speziell an diesem Forschungsprojekt war, dass wir versuchten, das Gewebe im eigenen Körper zu züchten. Wenn dies gelingt, kann mindestens eine Operation eingespart werden im Vergleich zum heute üblichen Vorgehen, bei dem das Gewebe im Labor gezüchtet wird. Persönlich habe ich mich speziell mit molekularen Mechanismen der vaginalen Wundheilung beschäftigt. Das war mein konkretes Thema innerhalb der Forschungsgruppe.
Wie kam der Auslandaufenthalt zustande?
Ich habe mein Bachelorstudium an der ETH Zürich absolviert und bin jetzt im Masterstudium an der Università della Svizzera Italiana (USI) in Lugano. Als Mediziner ist es generell schwierig, während des Studiums einen Auslandaufenthalt zu machen. Im Bachelorstudium an der ETH ist es unüblich und nicht vorgesehen. Im Masterstudium gibt es an anderen Unis schon eher die Möglichkeit dazu, aber an der USI normalerweise nicht, da das Studium in Lugano sehr praxisorientiert aufgebaut ist. Wir verbringen zwei Tage pro Woche im Spital und haben den Rest der Woche Theorie. Das gibt es an anderen Unis nicht, deshalb lässt sich ein Auslandaufenthalt nicht ins Studium einbauen. Für mich war es aber ein wichtiges Ziel, einen Auslandaufenthalt machen zu können, um auch einmal ein anderes Gesundheitssystem kennenzulernen. Die zusätzlichen Eindrücke helfen bei der Karriereplanung.
Wie hast du es trotz dieser suboptimalen Voraussetzungen geschafft?
Zum Bachelorstudium an der ETH Zürich gehört ein obligatorisches translationales Forschungspraktikum dazu. Die ETH hat eine Liste mit Forschungsgruppen, die offen sind. Die sind aber alle in der Schweiz. Ich setzte mir zum Ziel, das Forschungspraktikum im Ausland zu absolvieren. Zunächst suchte ich in den Bereichen Klima und Medizin, ebenfalls in den nordischen Ländern, weil diese in den Bereichen weiter sind. Aber da fand ich nichts. Da ich auch an der Pädiatrie interessiert bin, suchte ich nach Möglichkeiten in diesem Bereich und stiess so auf das Projekt am Karolinska-Institut. Ich schrieb die Verantwortlichen an und erhielt die Stelle. Da war also viel Eigeninitiative, aber auch viel Glück nötig.
Warum Schweden und das Karolinska-Institut?
Allzu weit weg wollte ich nicht, deshalb schränkte ich meine Suche auf Kontinentaleuropa ein. Die nordischen Länder sind mir sehr sympathisch, und das Karolinska-Institut ist sehr renommiert. Es ist eine der besten medizinischen Forschungseinrichtungen der Welt, für mich war es ein grosses Glück, diese Chance zu bekommen. Das Institut ist riesig, in der Schweiz gibt es nichts Vergleichbares, und auch in Europa ist das Karolinska-Institut praktisch einzigartig.
Welche Hürden musstest du überwinden?
Das Finanzielle war ein Thema. Es gab keine Unterstützung in Form von Stipendien oder Ähnlichem, weder von der ETH Zürich noch vom Karolinska-Institut. Die Finanzierung musste ich also selbst lösen. Auch die Unterkunft musste ich selbst organisieren. Am Karolinska-Institut gibt es zwar Zimmer für Studierende, aber ich hatte in meiner Situation kein Anrecht auf eine solche Unterkunft und buchte deshalb via Airbnb ein Zimmer. Das ist sicher etwas, das besser gemacht werden könnte. Die ETH könnte sich überlegen, einen Fonds zu schaffen, aus dem Medizinstudierende für einen Auslandaufenthalt Geld beantragen könnten. Mit dem Visum gab es hingegen keine Probleme – ein so kurzer Aufenthalt als Student im Rahmen eines Praktikums ist innerhalb von Europa problemlos möglich.
Was hat dir am besten gefallen?
Ich hatte eine sehr gute, enge Betreuung, wurde sehr gut aufgenommen. Die Forschungsgruppe ist speziell, denn der grösste Teil der Gruppe arbeitet in Kopenhagen. In Stockholm waren zu meiner Zeit nur meine Betreuerin und ich. Alle zwei Wochen stiess auch die Gruppenleiterin aus Kopenhagen dazu. Meine Arbeit wurde sehr geschätzt, ich konnte einen Beitrag leisten, es war für meine Betreuerinnen nicht einfach nur Zusatzaufwand – das war natürlich toll. Schön war auch, dass ich nicht nur am Computer, sondern tatsächlich im Labor arbeitete. Ich fütterte und manipulierte die Zellen, das war für mich sehr interessant und etwas Neues.
Sehr gut gefallen hat mir auch der schwedische Sommer. Im Mai und Juni sind die Tage lang, die Stadt hat gelebt, es waren immer und überall Leute unterwegs – das war sehr cool. Ich hatte auch eine sehr gute Work-Life-Balance, denn meine Betreuerin ermutigte mich, rauszugehen, nicht zu lange im Labor zu arbeiten. Es ist schon speziell, wie gut sie das im Griff haben in Schweden. Meine Betreuerin hat zwei Kinder und arbeitet und kann beides super vereinbaren. Das wäre in der Schweiz sicher schwieriger. Auch die Leiterin der Gruppe – sie forscht, arbeitet als Chirurgin, hat Kinder, pendelt zwischen Kopenhagen und Stockholm – bringt gemäss ihren Aussagen alles gut unter einen Hut.
In der Schweiz gibt es zwar Bemühungen, Verbesserungen zu erreichen. Diese werden aber sehr oft als illusorisch abgestempelt. Meine Erfahrung in Schweden hat mir gezeigt, dass es auch anders geht. Man kann Forschung machen, chirurgisch tätig sein und trotzdem ein Leben haben. In der Schweiz heisst es ja schnell, dass das nicht geht. Aber in Schweden sieht man, dass es möglich ist.
Ist das nur in der Forschung so oder generell im Gesundheitswesen?
Die Pflegenden waren gerade am Streiken, als ich in Stockholm war. Sie arbeiten aktuell etwa 40 Stunden pro Woche und wollen weniger. Ich habe die Zahlen nicht mehr genau im Kopf, aber sie arbeiten weniger als wir in der Schweiz und wollen jetzt noch weiter reduzieren. Die Diskussion ist schon weiter als hier in der Schweiz. Der grösste Unterschied ist vermutlich schon die Kinderbetreuung. Es ist akzeptiert, dass man nach einer Geburt die Arbeit recht schnell wieder aufnimmt. Es gibt ein gut ausgebautes Kinderbetreuungssystem, und es ist deshalb normal, dass man die Kinder fremdbetreuen lässt und schnell wieder in den Beruf einsteigt, als Vater wie auch als Mutter. Das ist akzeptiert, wird auch erwartet, und dadurch ist die Vereinbarkeit auch viel besser als in der Schweiz.
Gab es auch etwas, das dir weniger gefallen hat?
Nein, aber ich war ja auch nur eine kurze Zeit dort. Schade war natürlich, dass ich kein Schwedisch kann. Für das Forschungspraktikum war das kein Problem, da alle Englisch sprachen. Aber für einen Arbeitseinsatz im Spital mit Patientenbetreuung, was ich mir vorstellen könnte, müsste ich sicher zuerst Schwedisch lernen.
Hast du schon eine Idee bezüglich deiner beruflichen Zukunft? Bringt dir das Praktikum dabei etwas?
Momentan habe ich schon ein bisschen die Kinderchirurgie im Auge, aber zurzeit sehe ich so viel, das kann sich schnell wieder ändern. Die Praktikumszeit hat aber schon bestätigt, dass ich gerne ein chirurgisches Fach ergreifen möchte. Ich mache nun auch meine Masterarbeit in dieser Forschungsgruppe in Schweden, aber in Zusammenarbeit mit der Chefärztin der Kinderurologie am Kinderspital Zürich, die meine Masterarbeit betreut.
Zur Person
Simon Gründler ist Medizinstudent im vierten Jahr und studiert an der Università della Svizzera Italiana (USI) in Lugano. Sein Bachelorstudium hat er an der ETH in Zürich abgeschlossen. Im Sommer 2024 absolvierte er ein Forschungspraktikum am Karolinska-Institut in Solna bei Stockholm, Schweden.
Ein Blick über den Gartenzaun
In der losen Serie «Andere Länder – andere Medizin?» sprechen wir mit Ärztinnen und Ärzten oder Studierenden, die während einer gewissen Zeit im Ausland arbeite(te)n. Welche Erfahrungen haben sie dabei gemacht? Was läuft besser, was schlechter als in der Schweiz?
Ärztinnen und Ärzte, die über ihre eigenen Erfahrungen berichten möchten, dürfen sich gerne bei der Redaktion melden: journal@vsao.ch