- Andere Länder – andere Medizin?
Notfallmedizin in der Grossstadt
Da es in der Schweiz keine anerkannte Spezialisierung in Notfallmedizin gibt, zog es Svenja Ravioli für ein Jahr nach London. Im Interview erzählt sie vom britischen Gesundheitssystem, Warteschlangen auf der Notfallstation und von den Vorteilen eines funktionierenden elektronischen Patientendossiers.
15.02.2024
Was war deine Motivation für den Aufenthalt in London?
Meine beruflichen Interessen liegen seit dem Studium im Bereich der Akutmedizin, weshalb ich nach der Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin den Schwerpunkttitel für Klinische Notfallmedizin SGNOR anstrebte. Mein wissenschaftliches Interesse für notfallmedizinische Fragestellungen und die Tatsache, dass das Fach Notfallmedizin in der Schweiz nach wie vor keine anerkannte Spezialisierung ist, haben mich dazu bewogen, mich im Ausland nach Arbeitsmöglichkeiten umzusehen. Gleichzeitig war das Grossstadtleben schon immer ein Traum von mir und London dabei meine grosse Favoritin.
Im Vereinigten Königreich ist die Spezialisierung in Notfallmedizin seit über zwanzig Jahren anerkannt. Das Curriculum wird vom heutigen Royal College of Emergency Medicine, kurz RCEM, vorgegeben und umfasst das gesamte Spektrum der Notfallmedizin.
Welchen Schwierigkeiten bist du bei der Organisation des Aufenthalts begegnet?
Ein Schlüsselelement in der Organisation des Auslandaufenthalts war, die passende Arbeitsstelle zu finden, wobei die Vermittlung durch die richtige Kontaktperson in London zentral war. Ein entsprechendes berufliches Netzwerk war dabei essenziell.
Weiter war es ein sehr aufwendiger und langwieriger Prozess, beim «General Medical Council» GMC die Registrierung und Zulassung als Ärztin zu erhalten. Dank abgeschlossenem Facharzttitel konnte ich mich direkt ins Spezialistenregister eintragen lassen.
Trotz mündlicher Zusage hat es bis kurz vor Stellenantritt gedauert, bis ich einen schriftlichen Arbeitsvertrag in den Händen hielt, was die Wohnungssuche und Kontoeröffnung in London im Vorfeld deutlich erschwert hat.
Was muss für einen Aufenthalt in Grossbritannien unbedingt beachtet werden?
Es ist sehr wichtig, sich frühzeitig mit der Registrierung beim GMC auseinanderzusetzen. Der direkte Weg zum Erhalt der nötigen und korrekten, auf Englisch verfassten Dokumente von den verschiedenen Schweizer Behörden war nicht immer offensichtlich. Die Beschaffung dieser Dokumente war mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden.
Was hat dir bei der Arbeit in London am besten gefallen?
Die klinische Arbeit an einem grossen universitären Notfallzentrum, wo die gesamte Breite der notfallmedizinischen Krankheitsbilder inklusive Pädiatrie und Traumatologie von einem Kernteam erstversorgt wird, war für mich ein einmaliges Erlebnis. Insbesondere in der Versorgung von Schwerverletzten konnte ich durch die Rolle des King’s College Hospitals als Major Trauma Center wertvolle Erfahrungen gewinnen. Sehr bereichernd empfand ich auch das Arbeiten in einem kulturell diversen Umfeld und das entsprechend vielseitige und interessante medizinische Spektrum.
Durch den enormen Druck auf das britische Gesundheitswesen und die steigenden Patientenzahlen erhielten Kompetenzen wie «Rapid Assessment and Treatment RAT» und die Aufrechterhaltung des Patientenflusses ganz neue Bedeutungen für mich. Insgesamt wird deutlich weniger Zeit für administrative Tätigkeiten aufgewendet, und es werden tendenziell mehr Patientinnen und Patienten ambulant oder in sogenannten «Same Day Emergency Care»-Units, kurz SDEC, behandelt.
Was war weniger schön?
Im Vereinigten Königreich ist die Überlastung des Gesundheitswesens deutlich spürbar, und als zentraler Knotenpunkt im Patientenstrom tragen die Notfallzentren einen Grossteil dieser Last. Im Unterschied zur Schweiz werden Patientinnen und Patienten aber kaum in andere Spitäler verlegt und kurzzeitige Ambulanzsperren, um das Notfallzentrum zu entlasten, sind eine Seltenheit. So kommt es regelmässig vor, dass sich wartende Ambulanzen vor dem Spital aneinanderreihen und Patientinnen und Patienten während Stunden auf Ambulanztragen oder Stühlen in der Wartehalle ausharren müssen. Ebenso warten Patientinnen und Patienten nicht selten über zwölf Stunden in der Notfallkoje auf ein Spitalbett. Besonders prekär ist die Lage in der Versorgung von psychiatrischen Notfallpatientinnen und -patienten, die via somatischen Notfall eintreten und dort teilweise mehrere Tage auf ein Bett in einer psychiatrischen Klinik warten müssen.
Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen dem britischen und dem schweizerischen Gesundheitssystem?
Im Unterschied zu den Schweizer Krankenkassen ist der «National Health Service NHS» ein einheitliches staatliches Gesundheitssystem, das jeder im Vereinigten Königreich wohnhaften Person medizinische Versorgung garantiert. Patientinnen und Patienten erhalten nach erfolgter Behandlung keine Rechnung oder Auflistung der Kosten.
Die Hausärztinnen und -ärzte oder General Practitioners, kurz GP, übernehmen auch im britischen System eine zentrale Rolle im Lenken der Patientenwege. So führen diese im Vereinigten Königreich sogar PAP-Abstriche und Säuglingsentwicklungsuntersuchungen durch.
Gibt es Unterschiede bei den Arbeitsbedingungen für Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte?
Dazu braucht es momentan keine grossen Ausführungen, denn die News sind voll mit aktuellen Informationen zu den Junior Doctor Strikes. Die «British Medical Association BMA» ist das britische Pendant zum vsao und organisiert seit März 2023 die Streiks mit dem Ziel, den kontinuierlichen Abwärtstrend der Löhne seit 2008 sowie den damit verbundenen Verlust der realen Kaufkraft wettzumachen. Im Herbst konnte ein erster Teilerfolg erzielt werden.
Im Vergleich zur Arbeit in der Schweiz waren für mich die geleisteten Schichten zwar intensiver, dafür wurden pro Woche im Schnitt nur 40 Stunden gearbeitet, und ich hatte deutlich mehr Ferien.
Interessant ist auch das Modell des «Self-Rostering». Damit kann der eigene Dienstplan entsprechend der Anzahl vorgegebener Dienste selbst gestaltet werden, wobei als Bedingung jeden Tag ein Minimum an Personal zur Abdeckung des Bedarfs anwesend sein muss. Ich finde es bis heute erstaunlich, dass das Konzept funktioniert.
Gibt es etwas, was im britischen Gesundheitswesen besser funktioniert als in der Schweiz?
Die «London Care Records» als Form des elektronischen Patientendossiers im Grossraum London haben die alltägliche Arbeit enorm erleichtert. Medizinische Daten wie aktuelle Medikamente, Diagnosen, Berichte von Spitalaufenthalten oder Konsultationen sind für GP und Spitäler direkt auf der Plattform ersichtlich. Patientinnen und Patienten haben aber auch die Möglichkeit, die Erfassung ihrer Daten zu verweigern.
Weiter wird zumindest im Raum London die ambulante Behandlung von Patientinnen und Patienten durch Nachkontrollen in spezialisierten Ambulatorien sowie durch ausgebaute «Hospital at Home»-Services gefördert. Diese Strategie ist insbesondere in einer Zeit der omnipräsenten Bettenknappheit zentral.
Was sollte die Schweiz von Grossbritannien übernehmen?
Eine strukturierte, vollwertige Weiterbildung in Notfallmedizin, wie sie im Vereinigten Königreich angeboten wird, ermöglicht eine qualitativ hochwertige und umfassende Erstversorgung aller Notfallpatientinnen und -patienten durch Notfallmedizinerinnen und -mediziner. Aus meiner Sicht ist es an der Zeit, dass die Schweiz analog zum internationalen Trend die Spezialisierung in Notfallmedizin einführt und fördert.
Zur Person
Svenja Ravioli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin mit Schwerpunkttitel Klinische Notfallmedizin und Mitglied des vsao-Geschäftsausschusses. Sie verbrachte das Jahr 2023 als Senior Clinical Fellow und Research Fellow am Emergency Department des King’s College Hospital in London.
Ein Blick über den Gartenzaun
In der losen Serie «Andere Länder – andere Medizin?» sprechen wir mit Ärztinnen und Ärzten, die während einer gewissen Zeit im Ausland arbeiteten. Welche Erfahrungen haben sie dabei gemacht? Was läuft besser, was schlechter als in der Schweiz? Ärztinnen und Ärzte, die über ihre eigenen Erfahrungen berichten möchten, dürfen sich gerne bei der Redaktion melden: journal@vsao.ch