- Fokus: Blickwinkel
Ein Mensch, drei Blickwinkel
Während zehn Jahren ging Martin Föhse als Kathrin durchs Leben. Dabei hat er am eigenen Leib erfahren, wie unterschiedlich die Lebenswelten von Mann und Frau sein können.
20.08.2024
Er frisierte Töffli, war im Schützenverein, spielte Fussball zum Plausch und Handball im Club: Als Kind und Teenager entspricht Martin Föhse den traditionellen männlichen Geschlechterklischees, «ein typischer Landgiel» eben. Zumindest nach aussen. Denn in seinem Inneren sieht es anders aus. Stellvertretend dafür ist ein Foto aus dem Jahr 1981: Der damals fünfjährige Martin hat sich mit den beiden Nachbarskindern – einem Mädchen und einem Jungen – verkleidet; eine Prinzessin und zwei Mechaniker im Overall. «Ich wäre so gerne die Prinzessin gewesen», sagt Martin. Geäussert hat er dies nicht. «Es war mir peinlich.»
Jahrelanges Schweigen
Wer Martin heute sieht, in seinem blauen, gut sitzenden Anzug, mit den gepflegten Händen und dem spitzbübischen Lächeln, das immer mal wieder aufblitzt und ihn so sympathisch macht, käme kaum auf die Idee, dass er vor einigen Jahren noch Kathrin hiess und als Frau Karriere machte. Dass er vor der Geschlechtsangleichung manchmal in Tränen ausbrach, weil er morgens einen Anzug anziehen musste. Und dass er jahrelang niemandem erzählte, wie unwohl er sich in der Rolle als Mann fühlte.
«Ich wollte nicht auffallen»
Mit etwa 15 Jahren beginnt Martin, zu begreifen, was der Grund für seine inneren Kämpfe ist. Er geht in die Bibliothek, liest Fachliteratur, stellt eine Selbstdiagnose. Doch auch diese behält er für sich. «Ich wollte nicht auffallen.» Erst während des Jus-Studiums spricht er zum ersten Mal mit seiner Freundin über seine Gefühle. «Sie war mir wichtig. Deshalb wusste ich: Ich muss ihr auch von diesem Teil von mir erzählen.» Obwohl die Nachricht für sie unerwartet kommt, führt sie nicht unmittelbar zur Trennung; bis heute sind die beiden befreundet, Martin ist Götti ihres Kindes.
Kinder sind aufmerksam und total unverblümt; der ultimative Test
Eine Beleidigung als Kompliment
Um die 30 beginnt Martin eine Hormontherapie, wechselt die Kleider, lässt Extensions machen und wird zu Kathrin. Sie beobachtet andere Frauen, deren Kleidung, Gang und Haltung. Sie übt, mit sanfter Stimme zu sprechen. Sie informiert sich über Schminke, probiert aus und lässt sich beraten. «Die Zweifel, ob eine geschlechtsangleichende Operation das Richtige ist, waren immer da. Aber ich wollte nicht mit 60 zurückschauen und mich fragen, ob ich es nicht doch hätte tun sollen und ob ich unnötig gelitten habe.» Bevor Kathrin auch den letzten Schritt geht, prüft sie ihre Wirkung. Sie muss wissen, ob man sie wirklich als Frau wahrnimmt. Also setzt sie sich im Tram in die Nähe von Kindern – «Kinder sind aufmerksam und total unverblümt; der ultimative Test» – und stolziert mit arrogantem Blick am Bahnhof Bern im Hosenanzug an einer als aggressiv bekannten Bettlerin vorüber. Dass diese sie «du huere Saufotze» nennt, nimmt sie als Kompliment.
Eine neue Welt
Doch nicht überall läuft es nach Plan. War Martin bei seinem Arbeitgeber, einer renommierten Berner Wirtschaftskanzlei, noch einer der am besten ausgelasteten Mitarbeiter, werden Kathrin kaum mehr Mandate zugeteilt. Sie erhält die Kündigung mangels Arbeit. Kurz vor der Operation im Sommer 2008 findet Kathrin eine neue Stelle beim Bundesamt für Energie als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Im neuen Arbeitsumfeld macht sie ihre ersten beruflichen Erfahrungen als Frau – und erlebt eine andere Welt. «Als Frau gilt man offenbar als leicht behindert; es werden Stühle gerückt, Türen aufgehalten.» In den Sitzungen ist sie oft die einzige Frau. Der Ton ist vorsichtiger, es fallen weniger Sprüche, eine gewisse Distanz ist da. Einmal, da ist sie bereits Leiterin des Rechtsdienstes, wird sie von einem jüngeren Kollegen gefragt, ob sie im Sekretariat arbeite. Sie antwortet: «Nein. Und du?» Ein andermal hält sie einen Vortrag in einer Männerrunde über ein technisches Thema. Sie spürt zu Beginn eine Welle der Skepsis, nach dem Vortrag sind die Zuhörer begeistert. «Als Mann habe ich weder das eine noch das andere Extrem je erlebt: Als diesem Publikum unbekannte Frau war die Erwartungshaltung beleidigend tief, als dann die Präsentation einigermassen gut lief, war das Lob nach meinem Empfinden unangemessen euphorisch.»
«Wie befreit»
Die meisten Seiten an ihrer neuen Rolle geniesst Kathrin jedoch, sowohl im Berufsleben als auch privat. «All die Zweifel und die kreisenden Gedanken waren weg. Ich fühlte mich befreit.» Sie mag den Umgang der Frauen untereinander, die Gespräche, die sich oft auch um Privates drehen, die Nähe, die schneller entsteht, die häufigeren Berührungen. «Als Frau ist viel mehr erlaubt. Lächelt ein Mann einen anderen an, geht der gleich mit Rasierwasser gurgeln.» Kathrin geniesst es, auch mal hilfsbedürftig wirken zu dürfen; sie fragt ungeniert nach dem Weg, nimmt die Hilfe eines Mannes beim Ticketkauf an und lässt sich von einem anderen ihre Tasche ins Gepäckfach hieven – auch wenn er einen Kopf kleiner ist als die 1,76 Meter grosse Kathrin. Sie probiert aus, welche Kleider ihr stehen, und merkt, dass die Knopfleisten bei Blusen auf der anderen Seite sind als bei Hemden und dass sie nun automatisch zuerst die Hosen auszieht und dann erst das Oberteil. Sie schlendert gerne durch das bunte Sortiment an Körperpflegeprodukten für Frauen, mag die Vielfalt. «Die Bandbreite dessen, was toleriert wird, ist bei Männern in vielen Bereichen massiv kleiner.»
Eine steile Karriere
Auch karrieretechnisch steigt Kathrin auf. Nach sechs Jahren beim Bund, während deren sie berufsbegleitend doktorierte, erhält sie eine Berufung als Assistenzprofessorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität St. Gallen (HSG). Um sich beruflich abzusichern und ihre Optionen offen zu halten, beginnt sie, daneben auch wieder als Anwältin in einer Wirtschaftskanzlei zu arbeiten. Sie erhält Angebote für Verwaltungsratsmandate und Kommissionen, die teilweise wieder zurückgezogen werden, als Kathrin erneut zu Martin wird. «Manche Frauen werden mich vielleicht hassen, wenn ich das sage – aber eine Frau zu sein, hat meiner Karriere nach meinem Dafürhalten einen massiven Schub verliehen. Ich habe mich nie diskriminiert gefühlt – zumindest, wenn man unterschätzt zu werden nicht als Diskriminierung wertet.» Ob auch die Sozialisierung als Mann zum Erfolg beigetragen hat? «Vermutlich hat es nicht geschadet, dass ich möglicherweise einen männlichen Habitus an den Tag gelegt habe. Als Mann hätte ich mich damit wohl in der Bandbreite des Normalen bewegt, als Frau galt ich als tough oder dann, weniger schmeichelhaft, als ‹Reibeisen›.»
Männliche Pubertät hat Spuren hinterlassen
So gerne Kathrin eine Frau ist, kann sie doch nicht leugnen, dass es für sie auch anstrengend ist. Bei Bekanntschaften, die nichts über ihre Vergangenheit als Mann wissen, muss sie aufpassen, was sie preisgibt. Erzählt sie eine Anekdote aus dem Handball oder dem Militär, gerät sie schnell in Erklärungsnot. «Ich wollte nicht als Transfrau wahrgenommen werden, sondern als Frau.» Auch körperlich braucht das Frausein einen gewissen Effort. Die 30 Jahre als Mann, insbesondere die männliche Pubertät, haben Spuren hinterlassen – oder wie sie es ausdrückt: «Die Biologie hat in meinem Fall einen irreversiblen Schaden angerichtet: Stimmbruch, Bartwuchs, männliche Physis.» So einfach lässt sich das nicht kaschieren, besonders, wenn sie in den Vorlesungen stundenlang vor den Studierenden steht und ohne Mikro sprechen muss. «Als Frau wird man auch schnell auf das Äussere reduziert. Und die Studierenden, auch die weiblichen, können in ihrem Urteil gnadenlos sein.»
Das Unwohlsein kommt zurück
All diese Faktoren führen dazu, dass sich Kathrin nach zehn Jahren die Haare schneiden lässt, die Blusen gegen Hemden tauscht und wieder als Martin aus dem Haus geht. Martin lernt eine Frau kennen, die er einige Jahre später heiratet. Er wird zum Vizedirektor eines Bundesamts ernannt und erhält einen Lehrauftrag an der Uni Bern, seiner Alma Mater. Doch all diese Erfolge ändern nichts daran, dass da nun wieder ein Unwohlsein ist. «Gäbe es eine Tablette, die aus mir eine biologische Frau macht, würde ich sie sofort schlucken», sagt er. Doch der Leidensdruck ist nicht mehr so gross wie früher, Martin lässt sich weniger in eine Rolle drängen. Vielleicht haben ihm die zehn Jahre als Frau geholfen, sich mit seiner männlichen Seite zu versöhnen. Vielleicht ist es auch eine gewisse Lebenserfahrung, die ihn gelassener gemacht hat. Wichtig ist ihm aber eines: «Ich bin unendlich dankbar für diese Jahre als Frau. Je ne regrette rien.»