- Fokus: Blickwinkel
Vom Gleichgewicht der Säfte
Welche Diagnosen stellte ein Bündner Landarzt im 19. Jahrhundert? Und wie behandelte er die entsprechenden Krankheitsbilder? Seine Aufzeichnungen aus dem Jahr 1853 geben einen Einblick.
20.08.2024
Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte die Säftelehre als medizinisches Grundverständnis in Europa vor. Dieses bereits in der Antike entwickelte Konzept interpretierte den Körper, Krankheitsbilder und Menschen aus einem völlig anderen Blickwinkel, als wir es heute kennen. Gemäss der Säftelehre, auch Humoralpathologie genannt, wird der Körper krank, wenn seine vier Säfte nicht im Gleichgewicht sind. Diese Säfte sind die schwarze und die gelbe Galle, das Blut und der Schleim.
Die Erkenntnis, dass die Krankheitsursachen primär in den Zellen und somit in den Organen zu suchen sind und nicht im Ungleichgewicht der Säfte, wurde erst durch Professor Rudolf Virchow in seiner «Cellularpathologie» im Jahr 1858 begründet.
Diagnosen aus dem Jahr 1853
Zu dieser Zeit, von 1846 bis 1874, arbeitete Dr. med. Cristian Luregn Decurtins als Landarzt im bündnerischen Trun. Er hatte in Moskau an der medizinischen Fakultät studiert und war anschliessend in seine Heimat zurückgekehrt.
Maria Huonder, seine Urenkelin, vermachte meinem Vater, Dr. med. Pius Tomaschett, Landarzt in der gleichen Gemeinde von 1953 bis 1992, die Originalkrankengeschichten aus dem Jahr 1853. In den medizinischen Akten hatte Decurtins detailliert die Anamnese, die körperlichen Befunde und die daraus resultierenden Diagnosen mit den Therapien der damaligen Zeit erfasst. Bis ich die Akten aufarbeitete und 2023 in Form eines Buches publizierte, waren diese Aufzeichnungen unveröffentlicht gewesen.
Galle in der Lunge?
Folgende Patienten-Beispiele erklären den Blickwinkel der Säftelehre aus damaliger medizinischer Sicht:
Am 12. April 1853 stellte sich Frau Castelberg Margretha vor. Decurtins hielt fest:
Die Frau wurde vor zwei Tagen unwohl, bekam Kopf- und Brustschmerzen, Brechreiz und musste mehrmals erbrechen, worauf ihr etwas leichter wurde. Gestern klagte sie über einen trockenen, sehr häufigen Husten, noch hie und da mit blutigem Auswurf. Stechende Schmerzen in der hinteren Brustseite und in der Brust. Fortwährender Brechreiz, etwas mühsamen Atem.
Decurtins stellte die Diagnose Pneumonia levior billiosa, leicht gallige Lungenentzündung. Auch die Säftelehre kannte die Diagnose der Pneumonie. Hingegen kommt wegen des heftigen Erbrechens, wobei möglicherweise auch Galle hochkam, das Attribut «gallig» hinzu. Dieses Beispiel zeigt, dass die anatomischen Verhältnisse zwischen Lunge und Galle anders gedeutet wurden als heute. Decurtins therapierte mit Morphi acetici, was sicher den Husten dämpfte. Ausserdem wollte er gemäss der Säftelehre den «schlechten Saft» in der Lunge evakuieren. Dazu provozierte er ein Erbrechen mit der Brechwurzel Radix Ipecacuanhae, die als Expektorans und Emetikum wirken sollte. Zusätzlich verordnete Decurtins Kali sulfurici, um den schlechten Saft zusätzlich durch den Darm abzuführen. Damit beeinflusste er den Gastrointestinaltrakt, um das Gleichgewicht der Säfte wiederherzustellen – nicht die Lunge. Heute noch enthalten Abführmittel Kalium- und Natriumsalze.
Lindenholzkohle bei einem Herzinfarkt
Spannend ist bei Decurtins die Diagnose Cardialgie. Heute übersetzen wir diese Bezeichnung mit «Herzschmerz». Liest man die Krankenakten von 1853, beschreibt dies einen Schmerz im Epigastrium, im Bereich der Kardia, des Mageneingangs. Einige Anamnesen unter dieser Diagnose lassen ein Ulcus ventriculi, eine Magenverstimmung oder einen gastro-ösophagealen Reflux vermuten. Unter der gleichen Diagnose aber lässt folgende Anamnese eher etwas anders erahnen. Am 25. April 1853 notierte Decurtins bei Frau Disch Tresa:
Die Frau hat sich seit einiger Zeit schweren Feldarbeiten unterwerfen müssen und seither hat sie wieder ihre Magenschmerzen bekommen; nur beginnen diese gewöhnlich in der Brust, im Mediastinum. Steigen dann aufwärts, wie wenn Dunst ihr vom Magen in den Kopf hinaufstiege, wobei sie beinahe bewusstlos wird und wenn sie auch weiss, wo sie ist, so kann sie nichts anderes tun, als schnell niedersetzen, weil sie sonst umfallen würde. Die Schmerzen selbst aber haben stets ihren Sitz hauptsächlich in der Herzgrube [Epigastrium] und sind eigenthümlicher Art, sodass sie diese nicht beschreiben kann.
Das Konzept der Säftelehre liess Decurtins nicht auf die eigentliche Ursache dieser Beschwerden, einen möglichen Myokardinfarkt, schliessen. Er verabreichte Lindenholzkohle dreimal täglich, Aloe-Tinktur und Opium-Tinktur zur Beruhigung. Die erhoffte Wirkung der Lindenholzkohle kennen wir nicht. Die Aloe-Tinktur ist innerlich verabreicht leicht abführend. Die Opium-Tinktur lindert den Schmerz und beruhigt. Auch heute spritzen wir in einer solchen Situation Morphin.
Allheilmittel Aderlass
Am 30. Oktober 1853 hielt unser Arzt bei Frau Tambornini Onna Maria die Diagnose Angina pectoris fest. Er blieb jedoch ausschliesslich bei der Beschreibung der Symptome, ohne die kardiale Ursache zu bezeichnen.
Sie leidet seit mehreren Jahren an schwerem Athem und starkem Herzklopfen, vorzüglich beim Steigen, welches ihr beinahe unmöglich ist. Sie hatte mehrmals zwei Monate nicht zur Ader gelassen, weshalb sie diese Brustbeklemmung diesem Umstand zuschrieb und sogleich auf einen reichlichen Aderlass insistierte, wodurch die Brustbeklemmung behoben wurde und sie, einige Schwächen ausgenommen, wie vorher gesund war.
Bereits der erste Satz lässt auf eine Herzinsuffizienz und auf eine Angina pectoris schliessen. Kurz nach dem Aderlass kehrten die Beschwerden zurück: «Obschon man ihr zur Ader liess, Laxantien gab und Sinapismen (Umschläge) applicierte, hielt das Brustbeklemmen 5–6 Tage an, wo es dann allmählich verschwand.» Diese Beschreibung lässt einen Myokardinfarkt annehmen. Dieser ist trotz dem verordneten Abführen und den Umschlägen, deren Inhaltsstoffe wir nicht kennen, eingetreten.
Anschliessend beschreibt Decurtins sehr deutlich die Symptome einer Orthopnoe mit einer nächtlichen «Beklemmung auf der Brust mit Angst und dem Gefühl als gehe ihr der Athem aus […]». Als Therapie wurde wieder zur Ader gelassen. Als Volumenentlastung des Herzens mag dieser Aderlass (2–3 Deziliter) geholfen haben. Die dadurch provozierte Anämie ist bei einer Herzinsuffizienz aber zusätzlich schädlich. Die Medizin hatte damals noch keinen weiteren therapeutischen Vorschlag.
Quecksilber und Schiesspulver als Medikamente
Der Begriff «Infektion» war bis gegen Ende der 1870er-Jahre unbekannt. Damals kannte man weder Bakterien noch das Wort Hygiene oder gar Epidemie. Dennoch finden wir in den Akten die Diagnose Erysipelas traumatica nach einem Aderlass, der wohl mit unsauberem Messer durchgeführt worden war. Da halfen Umschläge mit kaltem Wasser und Aloe-Tinktur, die heute noch zur Hautpflege dient. Gegen Filzläuse half Quecksilber, das desinfizierend wirkt. Zum Einreiben wurde es in eine Vaseline vermischt. Gegen Krätzemilben half Schiesspulver offenbar vorzüglich. Der darin enthaltene Schwefel und das Salpeter haben diesen Parasiten den Garaus gemacht. Diese Behandlungen liessen sich nicht strikte mit den gestörten Verhältnissen der Säfte begründen. Sie haben sich dennoch empirisch bewährt.
Es fanden sich noch viele sehr interessante Fälle aus allen medizinischen Fachrichtungen, als die Säftelehre das Grundverständnis der Medizin vorgab. Die ausführlichen Anamnesen lassen noch heute auf Krankheitsbilder schliessen.
Die genauen Dokumentationen zeigen die grosse Empathie von Cristian Luregn Decurtins für seine Patientinnen und Patienten. Aufgrund seiner Aufzeichnungen können wir eine heutige Diagnose stellen und damit quasi mit einem Arzt und dessen Überlegungen vor 170 Jahren in Dialog treten.