• Fokus: Blickwinkel

«Schauen ist nicht sehen»

«Wie hast du das gemacht?» ist eine Frage, die der Zauberer Lionel Dellberg häufig hört. Neben einem Trick zum Nachmachen verrät er, was den Zauber der Magie ausmacht.

Mit Gesten und einer passenden Geschichte zieht Lionel das Publikum in seinen Bann – und lenkt es so vom eigentlichen Zaubertrick ab. Bild: Remo Fröhlicher
Mit Gesten und einer passenden Geschichte zieht Lionel das Publikum in seinen Bann – und lenkt es so vom eigentlichen Zaubertrick ab. Bild: Remo Fröhlicher

Erstaunen breitet sich aus, als Lionel Dellberg den Milchbeutel zerreisst, aus dem er soeben noch Milch, Limonade, Cola, Orangensaft und Weisswein ausgeschenkt hat. Von innen sieht dieser ganz normal aus, nichts deutet darauf hin, dass er präpariert sein könnte. «Wie hat er das gemacht?» Um diese Frage aus den Gesichtern der Zuschauerinnen und Zuschauer zu lesen, muss man kein Zauberer sein. Doch genau diese Verblüffung angesichts eines gelungenen Tricks, dieses kindliche Staunen ist das, was Lionel, der als Künstler nur mit Vornamen auftritt, an der Zauberei mag. «Magie ist die einzige Kunstform, die von der Emotion des Nichtverstehens lebt», sagt er.

Ein Trick zum Nachmachen

Doch wie funktioniert Magie? Um es vorwegzunehmen: Seinen Milchbeuteltrick, den er während fünf Jahren entwickelt, getestet und ausgefeilt hat, wird Lionel in diesem Text nicht verraten. Falls Sie aber wissen möchten, wie Sie der Gravitation ein Schnippchen schlagen und am nächsten Familienfest Ihre Verwandtschaft beeindrucken können, sei Ihnen das folgende Video empfohlen. Dort verrät Lionel nämlich einen einfachen Trick zum Nachmachen. Doch zurück zu unserer Frage: Wie funktioniert Magie?

Ablenkung ist Trumpf

Damit eine Illusion zustande kommt, braucht es auf der einen Seite eine Person, die zaubert; auf der anderen Seite Menschen, die zuschauen, wahrnehmen, interpretieren. Beginnen wir beim Zauberer: «Ein Zaubertrick gelingt dann, wenn verschiedene Komponenten gut zusammenspielen und so ineinandergreifen», sagt Lionel. Er muss es wissen. Seit acht Jahren lebt der Walliser und studierte Betriebswissenschaftler von der Zauberkunst, neben eigenen Shows tritt er auch an Firmenanlässen und bei Fernsehsendungen auf.

Basis der Zauberei sind – wer als Kind einen Zauberkasten hatte, ahnt es bereits – das richtige Material und das Wissen um den Trick. Sind diese vorhanden, dann heisst es: üben, üben und nochmals üben. «Fingerfertigkeit ist enorm wichtig: Mischtechniken, Kartenkontrolle, die Handhabung der Materialien – das habe ich so lange geübt, bis es von allein lief», sagt Lionel. Denn nur so kann er sich auf die letzten beiden Komponenten konzentrieren: das Lenken der Aufmerksamkeit und das Timing. «Indem ich dem Trick eine Geschichte, eine Dramaturgie gebe, bereite ich das Publikum auf den Höhepunkt vor und lenke sie vom eigentlichen Trick ab.» Neben den Worten seien dabei auch Gesten und die Körpersprache wichtig. «Dort, wo meine Aufmerksamkeit und mein Blick sind, schaut auch das Publikum hin.»

Konflikt zwischen Wissen und Wahrnehmung

Klingt alles einleuchtend, ganz so einfach ist es aber nicht – womit wir beim Publikum wären. Denn ob ein Effekt ankommt oder nicht, sei schwierig vorherzusagen. Und technisch anspruchsvoll bedeute nicht automatisch erfolgreich. «Laien wissen nicht, was hinter der Zauberei steckt und können nicht beurteilen, wie schwierig oder einfach ein Trick ist.» Wichtiger sei, dass der Trick nahbar sei, nicht zu perfekt wirke und dennoch mysteriös bleibe. Deshalb mag Lionel nützliche Magie, die kleine Alltagswünsche erfüllt, und greift gerne auf gewöhnliche Gegenstände wie eben den Milchbeutel zurück. Sähen die Zuschauenden, was sich mit diesen alles machen liesse, seien sie oft umso erstaunter. «Denn Magie entsteht, wenn die Zuschauenden einen starken Konflikt erfahren zwischen dem, was sie für möglich halten, und dem, was sie tatsächlich wahrnehmen.»

Der unsichtbare Gorilla

Um diesen Konflikt zu kreieren, nutzt die Zauberei menschliche Eigenschaften und Unzulänglichkeiten: Gemäss der Theorie des «Predictive Coding» ist unsere Wahrnehmung nicht allein das Resultat der sensorischen Eindrücke, sondern unser Gehirn erstellt auf Basis von bestehendem Wissen und Erfahrungen Vorhersagen, die es mit den eingehenden Sinneseindrücken ergänzt. «Je grösser das Wissen über die Welt ist, desto besser funktioniert das Zaubern, da man mit den bestehenden Erwartungen brechen kann», sagt Lionel. Ebenfalls machen sich Zaubernde die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung zunutze. Das Gehirn kann nicht alle eingehenden Informationen verarbeiten – «und mit Worten, Mimik und Gestik schaffe ich genügend andere Reize, um einige Handlungen im Verborgenen ausführen zu können», sagt Lionel. Konzentriert sich das Publikum auf einen bestimmten Aspekt, kann es sogar offensichtliche Dinge übersehen; Stichwort hier ist die sogenannte «Unaufmerksamkeitsblindheit». Ein bekanntes Beispiel für dieses Phänomen ist der unsichtbare Gorilla. Bei der entsprechenden Studie hatten die Probanden die Aufgabe, eine Videoaufnahme mit sechs Basketballspielern anzuschauen und die Pässe des weissen bzw. des schwarzen Teams zu zählen. Viele Probanden waren so absorbiert mit dieser Tätigkeit, dass sie den verkleideten Gorilla, der durchs Bild spazierte, nicht bemerkten [1]. Einen Gorilla hatte Lionel zwar bislang nicht auf der Bühne, weiss aber aus Erfahrung: «Schauen ist nicht gleichbedeutend mit sehen.»

Der Zauberer im Publikum

Und was geschieht, wenn Lionel selbst die Perspektive wechselt und sich bei einer Zaubershow ins Publikum setzt? «Bei etwa 90 Prozent der Effekte weiss ich, was dahintersteckt. Oft sind es auf die eine oder andere Art abgewandelte Klassiker.» Und bei den restlichen zehn Prozent? «Die Tricks, die ich nicht verstehe, geniesse ich besonders – und dann beginne ich, zu recherchieren.»

Literatur

  1.  D.J. Simons, C.F. Chabris (1999): Gorillas in Our Midst: Sustained Inattentional Blindness for Dynamic Events. Perception, 28, S. 1059–1074.