• Fokus: Ethik

Klinische Ethik: wichtig für Erkrankte und Fachpersonen

Ethische Aspekte der medizinischen Praxis sind allgegenwärtig. Sie gut zu adressieren, hat nicht nur einen Einfluss auf die Qualität der Versorgung, sondern auch auf die Zufriedenheit von Ärztinnen und Ärzten sowie auf die interprofessionelle Zusammenarbeit.

Im medizinischen Alltag sind ethische Fragestellungen häufig. Eine angemessene Auseinandersetzung damit kommt nicht nur den betroffenen Patientinnen und Patienten zugute, sondern nützt dem gesamten Team. Bild: Adobe Stock
Im medizinischen Alltag sind ethische Fragestellungen häufig. Eine angemessene Auseinandersetzung damit kommt nicht nur den betroffenen Patientinnen und Patienten zugute, sondern nützt dem gesamten Team. Bild: Adobe Stock

Ethik, so schrieb 1997 John Fletcher von der University of Virginia – einer der Pioniere der klinischen Ethik –, ist keine primär theoretische, sondern eine praktische Disziplin, die sich mit realen Problemen befasst. Während die klinische Ethik in den USA und Kanada bereits seit den 1980er-Jahren einen Kerngehalt der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung darstellte und daraus auch erste ethische Unterstützungsstrukturen in Spitälern der Schweiz entstanden, hielt die Ethik in der Schweiz explizit erst Mitte der 2000er-Jahre in den Lernzielkatalogen Einzug. Im Jahr 2008 formulierte die Kommission für Weiter- und Fortbildung (KFWB) bereits Bildungsziele im Bereich Ethik, die in konzentrierter Form in allen Weiterbildungskatalogen des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) Eingang gefunden haben [1].

Im Jahr 2017 hat das SIWF deutlich weitergehende Ziele, sogenannte PROFILES (Principal Relevant Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland) auf der Basis des kanadischen Modells der Aus- und Weiterbildung für Medizinstudierende definiert. Dort finden sich klinisch-ethische Inhalte in allen professionellen Rollen, die Ärztinnen und Ärzte zu Beginn ihrer Weiterbildung erworben haben und die sie während der Weiterbildung ausbauen sollten (Medical Expert, Communicator, Collaborator, Leader/Manager, Health Advocate, Scholar, Professional).

Bestehende Lücken in Weiterbildung und Versorgung

An den Universitäten und Fachhochschulen für Gesundheitsberufe ist Ethik mittlerweile zentraler Bestandteil der Lehre. Hingegen ist die Implementierung der klinischen Ethik sowohl in der strukturierten wie der klinischen Weiterbildung noch nicht überall umgesetzt, und das Angebot einer klinisch-ethischen Unterstützung in den Weiterbildungsinstitutionen in Bezug auf Qualität und Quantität noch sehr variabel. Auch werden die Relevanz und Praktikabilität punktuell weiter infrage gestellt. Dies liegt möglicherweise daran, dass Ethik teilweise immer noch als rein theoretische, philosophische Disziplin in der Medizin gelehrt wird. Ein weiterer Grund könnte sein, dass nach den regelmässig stattfindenden Umfragen der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW) unter allen H+-Spitälern 2020 lediglich etwas über die Hälfte der Akutspitäler und Psychiatrischen Kliniken und knapp 30 Prozent der Rehabilitationskliniken eine Ethikstruktur etabliert hatten, wobei ein Drittel der Weiterbildungsverantwortlichen weiterhin über keinerlei ethische Fortbildung verfügten. Auch wenn Assistenzärztinnen und -ärzte im Medizinstudium ethische Grundlagen erlernen, treffen sie in der Weiterbildung möglicherweise auf Strukturen, in denen keine Möglichkeit besteht, ethische Fallbesprechungen durchzuführen oder sich bei ethischen Problemstellungen kompetente Unterstützung zu holen. Dies kann nachweislich moralischen Stress und moralische Verletzungen zur Folge haben. Diese wiederum können dazu führen, dass Ärztinnen und Ärzte, Pflegende sowie Therapeutinnen und Therapeuten den Beruf verlassen – oder schlimmer noch: psychisch erkranken.

Klinische Ethik «in a nutshell»

Der Kerngehalt der klinischen Ethik lässt sich in drei Dimensionen beschreiben:

  • Das «ethisch Gute»: Das, was von durchschnittlichen Akteurinnen und Akteuren in der Medizin als moralisch richtig und wünschenswert angesehen wird (z. B. ethische Prinzipien und Menschenrechte achten, vulnerable Gruppen schützen, Stärkung der Patientenautonomie).
  • Das «ethisch Problematische»: Das, was von durchschnittlichen Akteurinnen und Akteuren in der Medizin als moralisch schlecht und verhindernswert angesehen wird (z. B. Fehler vertuschen, Machtmissbrauch, bewusste Verletzung ethischer Prinzipien wie stark paternalistisches Handeln bei urteilsfähigen Personen oder schlechtere Versorgung von vulnerablen Personen).
  • «Ethische Dilemmata»: Häufig «Lose-lose»-Situationen, «Zwickmühlen», in denen gleichermassen relevante ethische Prinzipien oder primäre Berufspflichten kollidieren (z. B. Triage-Situationen, Autonomie-Fürsorgekonflikte bei Zwangsbehandlungen, Ringen um Therapieziele bei chronisch und schwer kranken Patientinnen und Patienten).

Zusammenspiel von Ethik und Kommunikation

Je nach Fragestellung sind unterschiedliche Herangehensweisen und Fertigkeiten hilfreich, um die Wertfragen sinnvoll, adäquat und nachhaltig zu adressieren. Grundsätzlich geht es in der klinischen Ethik nicht allein darum, die bestmöglich begründete Lösung zu finden, sondern auch hilfreich für die direkt involvierten Personen zu sein und Prinzipien nicht nur zu reflektieren, sondern auch zu realisieren («doing ethics»). Hierbei gehen ethische und kommunikative Fertigkeiten Hand in Hand, um eine klinisch-ethisch gute Praxis – und damit eine gute Medizin insgesamt – zu fördern. Einige Beispiele:

Die bestmögliche Realisierung von Patientenautonomie geht nicht ohne

  • Wissen, Haltung und Fertigkeiten in gemeinsamer Entscheidungsfindung (Shared Decision Making);
  • gesundheitliche Vorausplanung (Advance Care Planning);
  • die institutionelle Bereitstellung von evidenzbasierten Entscheidungshilfen für Patientinnen und Patienten.

Gleichermassen bedingt die Umsetzung des Nichtschadensprinzips

  • kommunikative Fertigkeiten in Breaking Bad News;
  • die Kommunikation medizinischer Fehler;
  • die institutionelle Etablierung und Wertschätzung von «Speak up»- und «Critical Incident Reporting»-Systemen.

Und schliesslich ist Gerechtigkeit nicht möglich ohne

  • transkulturelle Kompetenzen;
  • gendersensible Kommunikation;
  • die institutionelle Adressierung des bereits in den 1970er-Jahren beschriebenen «inverse care law», also der Problematik, dass diejenigen, die am meisten Versorgung benötigen – dazu gehören in jedem Land der Welt die Ärmsten – am wenigsten Hilfe bekommen.

Eine interprofessionelle Aufgabe

Im Sinne der Health-Advocacy-Rolle geht es auch um die Notwendigkeit, sich diesbezüglich gesundheitspolitisch zu engagieren, um beispielsweise die «schwarzen Listen» in allen Kantonen endgültig abzuschaffen. Diese sehen bei säumigen Prämienzahlenden nur eine Notversorgung statt eine Grundversorgung vor, was sowohl von der schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE) als auch von der Zentralen Ethikkommission der SAMW (ZEK) als Verletzung der medizinethischen Grundlagen angesehen wird. All dies ist keine rein ärztliche, sondern eine interprofessionelle Aufgabe. Um diese Ziele zu erreichen, ist daher die Förderung einer gemeinsamen Zusammenarbeit von Gesundheitsfachpersonen – und damit auch eine interprofessionell gestaltete Weiterbildung in ethischen Fragen – unerlässlich.

Schlussfolgerung und Ausblick

Gute Medizin beruht nicht nur auf guten diagnostischen und technischen, sondern auch auf guten kommunikativen und ethischen Fertigkeiten und einer professionellen Haltung, die alle Rollen, die Ärztinnen und Ärzte ausfüllen – von medizinischen Expertinnen bis zu Advokaten für eine gerechte, nachhaltige Gesundheitsversorgung – gleichermassen stärkt. Wo dies aufgrund fehlender Strukturen und Weiterbildungsmöglichkeiten fehlt, braucht es den Mut, diese einzufordern. Es braucht aber auch ein «Teach the Teacher»-Faculty-Development, um Weiterbildende in den ethischen Dimensionen der ärztlichen Tätigkeit fortzubilden. Hier arbeiten SIWF, SAMW und die Schweizerische Gesellschaft für Biomedizinische Ethik (SGBE) derzeit daran, die allgemeinen Lernziele für die Weiter- und Fortbildung noch praktikabler und konkreter zu machen und die Fortbildung in klinischer Ethik in der Schweiz weiter zu professionalisieren.

Weitere Informationen: www.bioethics.ch/sgbe

Literatur

  1. FMH (2008): Lernziele Gesundheitsökonomie und Ethik: Empfehlungen der Kommission für Weiter- und Fortbildung (KWFB) vom 11. September 2008. https://www.siwf.ch/files/pdf6/lernziele_ge_d.pdf (2.8.2024).