• Fokus: Ethik

Moralischer Stress als negativer Führungsbonus?

Knappe Personalressourcen, hohe Leistungsanforderungen und steigende Behandlungskosten: All dies führt dazu, dass insbesondere ärztliche Führungspersonen den ethischen Balanceakt zwischen Patientenwohl und wirtschaftlichem Erfolg bewältigen sollen. Eine neue Studie zeigt, wie es ihnen damit geht.

Eine hochstehende Patientenversorgung auf der einen und ökonomische Ziele auf der anderen Seite sorgen in Spitälern immer wieder für Zielkonflikte. Ärztliche Führungspersonen, die in diesem Spannungsfeld agieren, müssen mit moralischem Stress umgehen. Illustration: Stephan Schmitz
Eine hochstehende Patientenversorgung auf der einen und ökonomische Ziele auf der anderen Seite sorgen in Spitälern immer wieder für Zielkonflikte. Ärztliche Führungspersonen, die in diesem Spannungsfeld agieren, müssen mit moralischem Stress umgehen. Illustration: Stephan Schmitz

Für Kaderärztinnen und -ärzte wird der klinische Berufsalltag nicht leichter. Um gleichzeitig eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung und ökonomische Zielvorgaben zu erreichen, müssen sie häufig in ethischen Spannungsfeldern agieren. Grundsätzlich hat das Patientenwohl Vorrang gegenüber ökonomischem Effizienzstreben und Wirtschaftlichkeitsdruck [1]. Jedoch haben medizinische Entscheidungen stets auch ökonomische Auswirkungen. Dies erzeugt den inneren Druck, ethisch richtige und gleichzeitig unternehmerisch erfolgswirksame Versorgungsentscheidungen zu treffen. Gelingt dies nur unzureichend, kann moralischer Stress (moral distress) entstehen und die Betroffenen psychisch belasten.

Moralischer Stress als Führungsnormalität

Gerade vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussionen zur Kommerzialisierung der Patientenversorgung haben Ärztinnen und Ärzte in betrieblichen Führungspositionen die berufliche Aufgabe, ihren Mitarbeitenden eine versorgungsethische Orientierung zu geben. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns ist besonders bei medizinischen Berufen von grosser Bedeutung für die persönliche Arbeitsmotivation, das Betriebsklima und die wertegeprägte Unternehmenskultur des Spitals. Wird das eigene Handeln als im Widerspruch stehend zu berufsethischen und persönlichen Überzeugungen gesehen, kann dies seelisch belastend sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn kaum Hoffnung besteht, das eigene moralische Wollen im Klinikalltag umsetzen zu können.

Konkretes Führungshandeln als Stressquelle

Im Spannungsfeld zwischen den medizinischen und den wirtschaftlichen Zielen der klinischen Patientenversorgung im Spital müssen ärztliche Führungskader stets abwägen, ob Wirtschaftlichkeits- und Produktivitätsoptimierungen zulasten der klinischen Versorgungsqualität umgesetzt werden. Eine Priorisierung wirtschaftlicher Zielvorgaben gegenüber den ärztlich-klinischen Behandlungsanforderungen verlangt von den ärztlichen Entscheidungsverantwortlichen eine kritische ethische Reflexion.

Schwierige Fragen

Entscheidungen in den Grauzonen des Spitalalltags zu treffen, bedeutet für ärztliche Führungspersonen oft, bei Zielkonflikten eine anstrengende Suche nach der bestmöglichen Balance zwischen Medizin und Ökonomie auf sich zu nehmen. Dabei stellen sich beispielsweise Fragen wie:

  • Sollte eine stationäre Behandlung gegenüber einer ambulanten Behandlung bevorzugt werden, weil sie aufgrund unterschiedlicher Leistungsvergütungen lukrativer wäre, obwohl eine ambulante Behandlung medizinisch ausreichend wäre?
  • Könnte eine medizinisch risikoaverse Patientenakquisition eine Verringerung wirtschaftlicher Risiken für die Fachabteilung ermöglichen?
  • Erscheint eine Über- bzw. Fehlversorgung (z. B. Anweisung und/oder Durchführung medizinisch unnötiger oder unangemessener Behandlungsleistungen) oder eine Unterversorgung (z. B. Einschränkung sinnvoller konsiliarärztlicher Leistungen, Laborleistungen oder Funktionsdiagnostik-Leistungen) für manche Patientinnen und Patienten aus wirtschaftlichen Gründen als die geeignete Entscheidung?
  • Sollten die Abrechnungssysteme durch Upcoding oder durch ökonomisch motiviertes Fallsplitting bespielt werden, um den Umsatz zu maximieren?
  • Sollten unstrukturierte und/oder zu frühe Patientenentlassungen durchgeführt werden, um den verweildauerabhängigen Behandlungsaufwand für das Spital zu minimieren?

Neue Studie zum moralischen Stress

Jede Entscheidung hat ihre Konsequenzen. Wie gehen nun Führungspersonen damit um,

  • dass ihre Managemententscheidungen vielleicht einen betrieblichen Ressourcenmangel nicht berücksichtigen können?
  • dass gewisse Behandlungen zu weiter steigender Arbeitsverdichtung beim Fachpersonal führen?
  • dass ihre Entscheidung eine Einschränkung der Behandlungsqualität aus Kostengründen mit sich bringen könnte?

Empirische Daten zum moralischen Stress ärztlicher Führungspersonen in Schweizer Spitälern lagen bisher nicht vor, und auch international ist dieses Themengebiet wenig erforscht. Eine explorativ ausgerichtete wissenschaftliche Studie zum Themenkreis «Ärztliche Führungspersonen und moralischer Stress in Schweizer Spitälern» [2], die voraussichtlich im vierten Quartal 2024 publiziert wird, gibt nun erste Hinweise. Hierbei führte das Medicine & Economics Ethics Lab des Instituts für Medizinethik und Medizingeschichte der Universität Zürich im Jahr 2023 eine schweizweite Onlinebefragung mit 215 ärztlichen Führungspersonen in Spitälern (Akutsomatik) durch.

Die Forschenden waren unter anderem an folgenden Informationen interessiert:

  • Wie häufig und wie stark erleben ärztliche Führungspersonen bestimmte betriebliche Situationen als moralisch Stress erzeugend?
  • Wie wichtig sind diesem Personenkreis professionelle Prinzipien im Spitalalltag, und wie schätzen sie deren Umsetzbarkeit im Spitalalltag ein?
  • Wie schätzen die Befragten die Auswirkungen von moralischem Stress ein?

Professionelle Prinzipien sind nur bedingt umsetzbar

Die Befragung zeigt, dass viele ärztliche Führungspersonen moralischen Stress als Belastung kennen, dieser aber individuell unterschiedlich häufig bzw. stark wahrgenommen wird.

Die Befragten empfanden moralischen Stress insbesondere dann, wenn sie eine stark steigende Arbeitsverdichtung für das Fachpersonal und/oder eine Beeinträchtigung der Patientenversorgung aufgrund von Ressourcenmangel in Kauf nehmen mussten. Auch Performancedruck aufgrund vorgegebener Leistungsmengen-, Budget- und Umsatzplanungen verursachte häufig moralischen Stress.

Als wichtigstes professionelles Prinzip nannten die Teilnehmenden das Wohl der Patientinnen und Patienten, das an erster Stelle ärztlichen Handelns steht. Danach folgten der Einsatz für eine gute Zusammenarbeit aller medizinischen Berufe in der Patientenversorgung, die Behandlung aller Patientinnen und Patienten mit der gleichen Sorgfalt sowie das Erfragen und die Achtung ihres Willens.

Die Umsetzbarkeit professioneller Prinzipien im Spitalalltag schätzten die Teilnehmenden insgesamt als «nur mit Einschränkungen umsetzbar» ein. Am besten umzusetzen sind das Erfragen und die Achtung des Willens der Patientinnen und Patienten und die Behandlung aller Patientinnen und Patienten mit der gleichen Sorgfalt.

Bei allen im Fragebogen vorgeschlagenen professionellen Prinzipien schätzten die Teilnehmenden die persönliche Wichtigkeit für sich selbst höher ein als deren Umsetzbarkeit im Spitalalltag.

Motivation und Wohlbefinden leiden

Laut Befragung hat moralischer Stress bei ärztlichen Führungspersonen starke Auswirkungen, wenn sie eine grosse Diskrepanz zwischen der Wichtigkeit und der Durchführbarkeit ethischer Prinzipien im Spitalalltag empfinden. Erfahrenere ärztliche Führungspersonen leiden nicht weniger unter moralischem Stress als Kolleginnen und Kollegen mit geringerer Berufserfahrung.

Ein weiteres Ergebnis ist, dass der moralische Stress ärztlicher Führungspersonen nicht zusammenhängt mit der persönlich empfundenen Wichtigkeit professioneller Prinzipien im Spitalalltag. Auch ist diese persönlich empfundene Wichtigkeit professioneller Prinzipien im Spitalalltag nicht abhängig von der Berufserfahrung (Anzahl Berufsjahre), der beruflichen Position, dem Geschlecht, der Form der Spitalträgerschaft oder der Spitalart (Versorgungsniveau).

Als wichtige Auswirkungen von moralischem Stress wurden insbesondere die Demotivation und/oder Entmutigung der nachfolgenden ärztlichen Generation (x̄: 3,18 auf einer Likert-Skala +1 [stimme nicht zu] bis +4 [stimme zu]) sowie die Beeinträchtigung der eigenen Arbeitszufriedenheit (x̄: 2,90) und des eigenen seelischen und/oder körperlichen Wohlbefindens (x̄: 2,86) genannt.

Organisationsentwicklung als Lösungsperspektive?

Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass der moralische (Management-)Stress ärztlicher Führungskader in Spitälern ein berufs- und versorgungsethisch relevantes Thema ist. Ist dieses Themenfeld deshalb auch relevant für die unternehmerische Steuerung eines Spitals?

Wenn moralischer Stress als hilfreicher Indikator dafür gesehen würde, dass «etwas nicht stimmt», sollte die berufsethische Positionierung der Ärztinnen und Ärzte und deren Arbeitsbedingungen zum Ausgangspunkt einer medizin- und wirtschaftsethisch geprägten Organisationsentwicklung des Spitalbetriebs werden. Geeignete Lösungsansätze sollten dabei unterstützen können, dass moralische Konflikte ärztlicher Führungspersonen vermieden bzw. minimiert werden.

Verschiedene Fragen sind dann zu stellen:

  • Wie könnte erreicht werden, dass ärztliche Führungspersonen und die von ihnen geführten Mitarbeitenden eine geringere Differenz spüren zwischen der von ihnen empfundenen Wichtigkeit ethischer Prinzipien und deren praktischer Umsetzbarkeit im Spitalalltag?
  • Wie könnten ärztliche Führungskader darin unterstützt werden, ihre Abwägungsentscheidungen für die klinische Patientenversorgung zu treffen und diese zu kommunizieren? Frustrationen, Motivationseinschränkungen und die verringerte Bindung der Beschäftigten an das Spital haben wahrscheinlich nicht nur einen negativen Einfluss auf das Betriebsklima, sondern können auch zu Reputationsverlusten des Spitals und zu wirtschaftlichen Ineffizienzen führen.
  • Wie können Spitäler die berufsethischen Überzeugungen ihrer Beschäftigten so in die Weiterentwicklung [3] des gesamten Spitalunternehmens integrieren, dass es neben den bisher üblichen Zielbildern für gute (vor allem spitalbetriebswirtschaftliche) Unternehmensführung, zukünftig auch eine ergänzende Zielvorstellung für eine gute medizinische Unternehmensführung (Medical Corporate Governance [4]) geben kann?

Diese Fragen mögen derzeit vielleicht unternehmerisch wenig relevant erscheinen. Das könnte sich möglicherweise ändern, wenn nachfolgende Generationen von Ärztinnen und Ärzten ihren Anspruch auf moralische Sinnhaftigkeit der eigenen Berufsausübung (Purpose-Trend) in der klinischen Spitalhierarchie verstärkt einfordern. Dann wird moralischer Stress zu einem strategischen Kernthema für die Spitalleitung.

Das Wohl der Ärzteschaft nicht vergessen

Wenn sich moralischer Stress aus Sicht der Betroffenen bei der Ausübung ihres anspruchsvollen Berufs negativ auf ihr persönliches Wohlbefinden auswirkt, sollte diese Belastung bei der qualitativen Weiterentwicklung der Spitalversorgung berücksichtigt werden. Ärztinnen und Ärzte werden immer mehr zu einer knappen Ressource im Gesundheitssystem. Die anstrengende berufliche Weiterentwicklung zur ärztlichen Führungsperson sollte für diese Beschäftigtengruppe nicht bedeuten, dass moralischer Stress zum unvermeidbaren Bestandteil ihrer Karriere wird. Zwischen Patientenwohl und Spitalerfolg sollte das Wohl der Ärztinnen und Ärzte nicht vergessen werden.

Ein lösungsorientierter Umgang im Spital mit moralischem Stress kann helfen, die mentale Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten mit Managementverantwortung im Klinikalltag zu stärken. Für ärztliche Führungspersonen kann es sinnvoll sein, moralischen Stress als wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung der eigenen Führungspersönlichkeit, des Arbeitsfelds und des Spitals zu nutzen. Das ist keine leichte Aufgabe und kann Widerstände hervorrufen. Oder um es mit dem politischen Philosophen Montesquieu (1689–1755) zu sagen: «Für seine Arbeit muss man Zustimmung suchen, aber niemals Beifall.»

Literatur

  1. Bohrer, Thomas; Kapitza, Thomas; Schmidt, Michael; Königshausen, Johann-Heinrich: Patientenwohl als Prinzip der Medizin und Ökonomie als Bedingung ärztlichen Handelns. Über die präzise Bestimmung eines komplexen normativen Verhältnisses für den ärztlichen Berufsalltag, Zeitschrift für medizinische Ethik ZfmE, Freiburg, 2024, DOI: 10.30965/29498570-20240067.
  2. In Vorbereitung: Kapitza, Thomas; Spitale, Giovanni; Germani, Federico; Biller-Adorno, Nikola: Moralischer Stress ärztlicher Führungspersonen im Schweizer Klinikalltag (erscheint voraussichtlich im 4. Quartal 2024). Die Studie wurde vom Käthe-Zingg-Schwichtenberg-Fonds der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gefördert.
  3. Biller‐Andorno, Nikola; Kapitza,Thomas: Medizinethik muss Bestandteil der Spital‐Governance werden; Quelle:
  4. Kapitza, Thomas: Medical Corporate Governance – Konzeptionelle Überlegungen zu einem organisationsethischen Ergänzungsansatz für Krankenhäuser, Zeitschrift für Gemeinwirtschaft und Gemeinwohl Z’GuG, 45. (1) 2022, 157–180, Köln 2022, DOI: 10.5771/2701-4193-2022-1-192.