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Das Spital Uster zeigt: 42+4 ist auch in der Chirurgie möglich
Die 42+4-Stunden-Woche ist auf dem Vormarsch. Auch in der Chirurgie ist das Konzept umsetzbar, wie das Spital Uster seit dem 1. August 2024 zeigt. Wir haben nachgefragt, wie es dazu gekommen ist.
15.10.2024
Wochen mit Arbeitszeiten von (weit) über 50 Stunden, keine oder nur wenig strukturierte Weiterbildung – das ist heute für viele Assistenzärztinnen und -ärzte die Realität. Eine Realität, die an den Kräften zehrt und Fragen aufwirft bezüglich der Nachhaltigkeit des Gesundheitssystems. Eine Realität aber auch, zu der es Alternativen gibt.
Die 42+4-Stunden-Woche mit 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung und mindestens 4 Stunden strukturierter Weiterbildung pro Woche ist im Aufwind. Immer mehr Spitäler erkennen, dass dieses Modell es ihnen leichter macht, das Arbeitsgesetz einzuhalten und den Assistenzärztinnen und -ärzten die Weiterbildung zu ermöglichen, die ihnen zusteht. Gleichzeitig erhöhen sie dadurch ihre Attraktivität als Arbeitgebende, und es gelingt ihnen viel eher, offene Stellen zu besetzen.
Viele Kliniken setzen um
Mittlerweile sind viele Kliniken auf den Zug aufgesprungen, zuletzt das Stadtspital Zürich. Dort arbeiten die Assistenzärztinnen und -ärzte dreier Kliniken seit dem 1. Oktober im 42+4-Stunden-Modell. Dies geschieht im Rahmen eines Pilotprojekts, um «die 42+4-Stunden-Woche umfassend zu erproben und die Auswirkungen auf die Arbeitszufriedenheit sowie die betrieblichen Abläufe zu evaluieren», wie die Stadt Zürich mitteilte. Einige andere Spitäler, wie das Kantonsspital Winterthur, die Psychiatrische Uniklinik Zürich oder die Tessiner Kantonsspitäler (EOC), sind daran, die Umsetzung des neuen Arbeitszeitmodells zu planen. Weitere Spitäler und Kliniken – zum Beispiel das Paraplegiker-Zentrum Nottwil oder das Waadtländer Unispital (CHUV) – haben immerhin bereits die Sollarbeitszeit auf 46 Stunden pro Woche gesenkt.
Diskussionen in der Chirurgie
Ein besonders interessantes Beispiel ist die Chirurgie im Spital Uster. Immer wieder hatten in den letzten Monaten Chirurginnen und Chirurgen ihre Bedenken angemeldet, dass das Konzept 42+4 in der Chirurgie nicht umsetzbar sei. Zuletzt gab es allerdings auch andere Stimmen, zum Beispiel aus dem Forum Junge Chirurgie, das ein entsprechendes Positionspapier publiziert hat. Es ist zudem klar geworden, dass in der chirurgischen Weiterbildung Probleme bestehen, die sich nicht dadurch lösen lassen, indem mehr gearbeitet wird. Eines davon ist, dass in vielen Kliniken nicht so viele Operationen für Weiterbildungszwecke verfügbar sind, wie für die Weiterbildung der dortigen Assistenzärztinnen und -ärzte eigentlich nötig wären.
Die Idee kam vom Chef
Das Spital Uster mit Vital Schreiber als Chefarzt der Chirurgie zeigt nun in der Praxis, dass die Reduktion der Sollarbeitszeit mit dem Modell 42+4 auch in der Chirurgie möglich ist. Per 1. August 2024 wurde die Arbeitszeit in der Klinik Chirurgische Disziplinen (Viszeralchirurgie, Urologie, Traumatologie, Orthopädie und Handchirurgie) für Assistenzärztinnen und -ärzte auf 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung und mindestens 4 Stunden strukturierte Weiterbildung pro Woche gesenkt. Davor betrug die Arbeitszeit 50 Wochenstunden, ohne Unterscheidung zwischen Weiterbildungs- und Dienstleistungszeit.
«Mit der Einführung der 42+4-Stunden-Woche gehen wir mit gutem Beispiel für weitere chirurgische Kliniken voran.»
Zustande gekommen ist das Projekt auf Initiative des Chefarztes Vital Schreiber, der sagt: «Ich bin überzeugt, dass auch in der Chirurgie zeitgemässe Arbeitszeiten möglich sind. Eine überdurchschnittlich gute und strukturierte Weiterbildung ist uns schon seit Langem ein grosses Anliegen. Wir wollen chirurgischen Nachwuchs gewinnen. Mit der Einführung der 42+4-Stunden-Woche gehen wir mit gutem Beispiel für weitere chirurgische Kliniken voran.» Mit Isabelle Bünter hatte er eine Oberärztin mit Kontakten zum VSAO Zürich im Team. Bünter wandte sich mit dem Anliegen an den Verband, und schon bald darauf fanden erste Sitzungen statt, um das konkrete Vorgehen zu planen.
Enge Begleitung durch den vsao
Anna Wang, damals Präsidentin des VSAO Zürich und selbst Chirurgin, kümmerte sich um das Projekt. Sie erklärt die Rolle des VSAO: «Wir begleiteten das Change-Management. Zunächst ging es darum, den aktuellen Zustand zu analysieren, um dann gemeinsam mit den Klinikverantwortlichen zu reflektieren, wohin die Reise führen soll. Anhand dieses Wegs wurden konkrete Lösungsvorschläge ausgearbeitet, die dann umgesetzt werden mussten.» Vom ersten Kontakt bis zur Implementierung des neuen Arbeitszeitmodells verging rund ein Jahr, wobei die intensivste Phase in die ersten Monate des Jahres 2024 fiel.
«Es ist eine Frage des Willens»
Philipp Rahm, Dienstplanberater des vsao-Dachverbands, war ebenfalls eng in den Prozess involviert. Er betont: «Es ist vor allem eine Frage des Willens. In Uster war es sehr hilfreich, dass der Chefarzt 42+4 wollte. Er hat auch entsprechenden Einfluss in der Spitalleitung und war deshalb in der Lage, dem Projekt zum Durchbruch zu verhelfen. Entscheidend war auch, dass der VSAO Zürich einen konkreten Projektplan hatte, der ein strukturiertes Vorgehen ermöglichte.»
Strukturen und Abläufe anpassen
Nach der Analyse des Istzustandes ging es darum, die Tagesstruktur so zu überarbeiten, dass Zeit eingespart und eine Dienstplanung mit 46 Wochenstunden inkl. Weiterbildung möglich werden konnte. Isabelle Bünter sagt dazu: «Wir haben einerseits an den Strukturen der Klinik Änderungen vorgenommen, um die Abläufe so effizient wie möglich zu gestalten. Einzelne Elemente des Tages wie der Nachmittagsrapport wurden gestrichen, dafür wurden andere ausgebaut. Die Zeiten der Weiterbildung wurden zudem neu organisiert. Insgesamt gelang es so, den Tag so zu entschlacken, dass die 42+4-Stunden-Woche möglich wurde.»
Keine getrennte Zeiterfassung möglich
Aus technischen Gründen bislang nicht möglich ist die getrennte Zeiterfassung. Faktisch handelt es sich in Uster deshalb aktuell um eine 46-Stunden-Woche. Die strukturierte Weiterbildung wird zwar bei der Dienstplanung eingeplant, kann aber im Zeiterfassungssystem nicht separat erfasst werden. Dies erschwert die Kontrolle, ob die vier Stunden strukturierte Weiterbildung wirklich wahrgenommen werden können. Für eine erste Zwischenbilanz ist es aber ohnehin noch zu früh. «Es ist klar, dass solche Projekte nicht von Anfang an reibungslos funktionieren. Wir werden nach drei Monaten einen ersten Rückblick machen, um zu analysieren, wo noch Probleme sind und wo nachgebessert werden muss», sagt Isabelle Bünter.
Bereitschaft muss da sein
Für Philipp Rahm ist die Umsetzung einer 42+4-Stunden-Woche bzw. jede Reduktion der Sollarbeitszeit in allererster Linie eine Willensfrage, aus arbeitsrechtlicher Sicht sei es sowieso sinnvoll. «Wenn eine Klinik gute Arbeitsbedingungen schaffen und das Arbeitsgesetz einhalten will, dann gibt es einen Weg. Es muss eine Bereitschaft da sein, die Tagesstrukturen und Abläufe anzupassen, die Zeit- und Dienstpläne zu optimieren. Wenn dies seriös angegangen wird, kann sofort Zeit gespart werden. Je konsequenter man vorgeht, desto mehr Zeit kann gewonnen werden.» Oft gehe damit auch ein kultureller Wandel einher, gerade in der Chirurgie. «Früher war der bessere Chirurg derjenige, der länger geblieben ist. Heute muss das nicht mehr so sein, aber das bedingt, dass die Teamleitung und das ganze Team diese Veränderung will.»
42+4: Der vsao bietet Argumente, Antworten und eine Anleitung
Möchten Sie in Ihrer Klinik die Sollarbeitszeit auf 42+4 reduzieren? Bei der konkreten Umsetzung hilft der vsao gerne. Unter www.42plus4.ch gibt es nebst Argumenten für die 42+4-Stunden-Woche auch viele Antworten auf häufig gestellte Fragen und eine Anleitung, wie Kliniken oder auch Ärztinnen und Ärzte vorgehen können, wenn sie sich eine Reduktion der Sollarbeitszeit zum Ziel setzen.