• Fokus: Träume

«Der Traum ist unser nächtliches absurdes Theater»

Franz Hohler schreibt die meisten seiner Träume auf. Was ihn an dieser Welt fasziniert und wie er seine Fantasie auch mit über 80 Jahren pflegt, erzählt er im Gespräch.

Franz Hohler lässt sich gerne von den Traumwelten überraschen, die Nacht für Nacht auf ihn warten. Bild: Patrick Cernoch
Franz Hohler lässt sich gerne von den Traumwelten überraschen, die Nacht für Nacht auf ihn warten. Bild: Patrick Cernoch

Welche Bedeutung haben Träume für Sie?

Träume sind für mich seit jeher wichtig. Sie sind unsere Verbindung mit einer Welt, die zwar zu uns selbst gehört, die wir aber nicht kennen. Ein Traum ist wie eine Nachricht aus den abgelegenen Provinzen von uns selbst.

Deuten Sie Ihre Träume?

Ich habe nicht das Bedürfnis, jeden Traum zu deuten. Es gibt ja diesen Aberglauben, dass die Träume in den zwölf Raunächten – also den Nächten zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag – eine Bedeutung haben für den entsprechenden Monat im kommenden Jahr.

Ich habe dies mal überprüft, indem ich meine Träume mit dem verglichen habe, was in den jeweiligen Monaten so passiert ist, aber es hatte überhaupt nichts miteinander zu tun. Das spielt aber auch keine Rolle. Ich finde es schön, wenn die Aufmerksamkeit auf die Träume gelenkt wird. Denn der Traum ist immer ein Anknüpfungspunkt für einen Gedanken. Wo war ich heute Nacht? Was lief da? Und ab und zu gibt es schon Träume, die ich gerne bespreche und meiner Frau Ursula erzähle. Sie kennt sich damit aus: Sie hat ihre Diplomarbeit am C. G. Jung-Institut über Waschküchenträume geschrieben. Ihr zuliebe hatte ich damals auch einen Waschküchentraum …

Da hatte die Realität offensichtlich ganz konkrete Auswirkungen auf Ihre Träume. War es bei Ihnen auch mal andersrum, also dass ein Traum konkrete Folgen hatte?

Nicht im direkten Sinn. Ich habe Träume immer als Art Bewusstseinserweiterung – eigentlich müsste man ja sagen Unbewusstseinserweiterung – angeschaut. Oder auch als eine Begegnung mit dem Absurden. Der Traum ist unser nächtliches absurdes Theater, das auf eine seltsame Art von uns selbst kommt und in dem andere Gesetze herrschen.

In vielen ihrer Erzählungen befinden sich die Protagonistinnen und Protagonisten auch in einer Art Traumwelt; die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmt. Inwiefern lassen Sie sich durch Ihre Träume inspirieren?

Direkt über meine Träume habe ich sehr wenig geschrieben. Sie sind etwas sehr Persönliches, das ich nicht unbedingt öffentlich machen möchte. Mein Werkzeug ist eher die Fantasie, die sich fragt: Was wäre, wenn? Die Idee zur Erzählung «Die Rückeroberung» beispielsweise, in der die Stadt Zürich von der Natur zurückerobert wird, ist entstanden, als ich von meinem Arbeitszimmer aus auf der Antenne des Nachbarhauses einen sehr grossen Vogel gesehen habe. In diesem Moment nahm ich ihn nur flüchtig wahr, und als ich genauer hinschaute, war er schon weg. Dann habe ich mich gefragt: Was wäre, wenn das ein Adler gewesen wäre? So kam das in Gang.

Auch im Roman «Der neue Berg» ergeht es Zürich schlecht; durch einen Vulkanausbruch wird die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Was hat es mit Zürich und diesen Alptraumszenarien auf sich?

Ich bin sehr ungnädig umgegangen mit Zürich. Beim «Neuen Berg» wollte ich vor allem einen Lebensnerv treffen. Und Zürich ist ein einziger Lebensnerv. Ich habe schon länger das Gefühl, dass wir uns im Normalbetrieb zu wohl und zu sicher fühlen, deshalb hat mich auch die Verletzlichkeit dieses Normalbetriebs beschäftigt. Erlebnisse wie atomare Katastrophen, Chemiekatastrophen, Kriege oder zuletzt auch die Pandemie können den Normalbetrieb aushebeln und plötzlich alles zum Stillstand bringen. Niemand weiss genau, was passiert ist, es gibt widersprüchliche Informationen, Verwirrung, eigentlich ist es eine Art Alptraum. Dies wollte ich aufzeigen. Im Kleinen haben letztlich auch Träume diese Funktion: Sie stellen den Normalbetrieb infrage durch eine Gegenwelt, eine ganz andere Welt, die wir eigentlich nicht verstehen. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich wünsche Zürich nichts Böses, überhaupt nicht, ich wohne ja selbst dort.

Suchen Sie bewusst nach Ideen für Ihre Geschichten, oder treffen Sie eher zufällig auf Motive, die Ihre Fantasie anregen?

Wenn man sich mal entschlossen hat, mit und von seinen Ideen zu leben, dann geht man mit offenen Augen, offenen Ohren, einem offenen Hirn und einem offenen Herzen umher und hat die Antennen ausgefahren für Sachen, die passieren. Wir alle erleben Geschichten, aber viele Menschen nehmen diese nicht bewusst wahr. Und dennoch ist es auch für mich rätselhaft, wie Ideen entstehen. Ich lese ab und zu Publikationen aus der Neurologie. Aber dazu, was die Substanz einer Idee ausmacht, welche Botenstoffe sich durch die Synapsen winden und plötzlich im Hirn auftauchen, habe ich bislang noch keine wissenschaftliche Erklärung gefunden. Das ist für mich ähnlich unbegreiflich wie das Träumen: Aus welchem Fundus kommen Träume? Wer ist der Traumregisseur, der verschiedene Elemente hervornimmt und uns irgendein Kostüm anzieht – oder uns das Kostüm auszieht, wie das ja in Träumen oft vorkommt?

Sie haben bestimmt mehr Ideen, als Sie verarbeiten können. Wie entscheiden Sie, ob etwas eine gute Idee ist?

Im Gegensatz zu den Träumen, die ich meistens mit einigen Stenografie-Notizen festhalte, schreibe ich Ideen schon lange nicht mehr auf. Ich glaube daran, dass eine Idee, die etwas von mir will, mehrmals kommt. Ein Beispiel dafür ist der Roman «Es klopft». Dieser beginnt damit, dass eine Frau an die Scheibe eines abfahrenden Zuges klopft, in dem mein Hauptdarsteller – übrigens ein Arzt – sitzt. Diese Szene kam mir einfach immer wieder in den Sinn.

Wissen Sie immer, wie eine Geschichte ausgeht, wenn Sie damit beginnen?

Nein, oft ist zu Beginn nur diese eine Idee, und ich weiss überhaupt nicht, wohin die Geschichte führen wird. Ich erzähle sie quasi zuerst mir selbst.

Eine Ihrer bekannten Figuren ist der Junge Tschipo, der so stark träumt, dass jeweils am nächsten Morgen ein Stück aus seinen Träumen in seinem Zimmer zu finden ist, und schliesslich träumt er sich auch an einen anderen Ort. Ist diese Geschichte aus Ihrem Interesse für Träume heraus entstanden?

Es hatte sicher damit zu tun, dass ich gerne träume und es mich wundernimmt, was ich träume. Denn meistens versteht man ja nicht ganz, was im Traum läuft und wie man in eine bestimmte Situation gekommen ist. Aber beim ersten der drei Tschipo-Bücher war es zunächst nicht mein Ziel, ein Buch zu schreiben. Wir waren in den Ferien auf einer griechischen Insel – man merkt ja, dass die Inseln auch im Buch eine starke Rolle spielen –, und da versprach ich meinem älteren Sohn, der damals etwa fünf war, jeden Abend eine Geschichte zu erzählen. Er fragte, ob es eine Geschichte sei, die ich selbst ausdenke, denn er wollte lieber eine Geschichte aus einem Buch. Also habe ich mir für jeden Abend einige Notizen gemacht, aus denen ich ihm dann vorlesen konnte wie aus einem Buch, und merkte schliesslich: Aha, das gibt ein Buch.

Die Publikation des ersten Tschipo-Buchs liegt schon über 45 Jahre zurück. Inwiefern hat sich der Zugang zur Fantasie in dieser Zeit verändert, und wie wichtig ist sie in unserer heutigen Leistungsgesellschaft, in der sie ja eher als unproduktiv gilt?

Ich halte die Fantasie für ein Organ des Menschen, und zwar für ein sehr wichtiges. Auch bin ich überzeugt, dass eigentlich alle Menschen kreativ sind. Aber vor allem Erwachsene riskieren oft nichts mehr: Sie hören auf, zu zeichnen, weil sie wissen, dass sie dieses Ross nie so hinkriegen werden, wie es wirklich aussieht. Doch ich finde, man sollte die Fantasie und diese kreativen Fähigkeiten – auch wenn sie nicht unmittelbar nützlich sind – nicht verkümmern lassen.

Dies gilt auch für die Kinder. Natürlich leben diese heute in einer anderen Welt als in derjenigen, in der ich oder in der meine Kinder aufgewachsen sind. Es ist mehr Tempo im Leben, die heutige Welt ist nervöser. Und die elektronischen Medien führen ein Stück weit schon dazu, dass Bücher – die ja einen wichtigen Zugang zur Fantasie bieten – insbesondere im Teenageralter weniger populär werden. Doch übrigens ist die Fantasie auch in der Bildschirmwelt nicht verschwunden. Denken Sie nur daran, wie viele Computerspiele Märchenmotive haben: Zauberer, Hexen, Königreiche, die Bösen, die Guten … also die uralten Märchenmotive. Letztlich bin ich also doch zuversichtlich, dass sich die Fantasie nicht unterkriegen lässt. Denn sie gehört zum Menschen.

Was tun Sie, um Ihre Fantasie auch mit über 80 Jahren lebendig zu halten?

Ich stelle mir immer wieder selbst Aufgaben in Form von Jahresdisziplinen: jeden Tag ein Foto oder pro Tag eine Zeichnung. Dass man sich selbst zwingt, etwas zu zeichnen, das man gesehen hat. Vielleicht die Sonne, die an diesem Tag sehr schön war. Das kann auch nur zwei Minuten dauern, aber man muss sich zwingen, anders zu schauen, und gewinnt dadurch einen neuen Blick auf die Welt. Dieses Jahr lerne ich jede Woche ein Gedicht auswendig. Und nächstes Jahr habe ich mir vorgenommen, jede Woche für mich einen Traum aufzuschreiben, der mich beeindruckt hat.

Welche Träume haben Sie noch?

Der erste ist: Am Morgen aufzuwachen, und ich bin noch da, und meine Frau Ursula ist auch noch da – das ist schon mal sehr gut. Ich weiss, dass dies nicht mehr selbstverständlich ist: Der Vorrat an Zukunft schmilzt nach 80. Man hofft einfach, dass man diese letzte Phase bis zum Tod noch möglichst lebendig verbringen kann. Und zugleich gibt es noch immer Dinge, die ich gerne noch machen würde. Ich habe letzthin in der Radiosendung «Musik für einen Gast» gesagt, dass ich eigentlich schon immer gerne mal ein Opernlibretto schreiben wollte. Kurz drauf erhielt ich einen eingeschriebenen Brief von einem Schweizer Musiker, der in Berlin lebt und mir schrieb, er würde gerne die Oper komponieren, zu der ich das Libretto mache. Er war nun kürzlich bei mir. Mal schauen – vielleicht gibt das etwas. Das Schöne in meinem Alter ist: Es muss nicht sein, aber es darf.

Zur Person

Kabarettist, Cellist, Liedermacher, Schriftsteller: Franz Hohler, geboren 1943 in Biel, zählt seit den 1960er-Jahren zu den bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen Schweizer Literatur und Kleinkunst, der gleichermassen Kinder wie auch Erwachsene anzusprechen vermag. Als scharfsinniger und humorvoller Beobachter entführt er sein Publikum in fantasievolle Traumwelten, zeigt Abgründe auf und führt zugleich durch die Absurditäten und Eigenheiten des Alltags. Franz Hohler lebt mit seiner Frau Ursula in Oerlikon.

Neujahrskarte

Wenn du das alte Jahr verlässt

nimm einen Traum mit.

 

Schreib ihn dir auf

und steck ihn ein.

 

Und falls du einen Ausweis brauchst

zum Eintritt in das neue Jahr

dann zögere nicht

 

und zeig ihn her.

 

Franz Hohler