• Fokus: Träume

Was uns Träume sagen können

Manchmal sind sie beängstigend, manchmal schön, häufig irrational und oft auch alles zugleich: unsere Träume. Doch haben sie auch etwas zu bedeuten? Ein Einblick in die Traumdeutung aus der Sicht der analytischen Psychologie.

Die analytische Psychologie sieht Träume als Weg zum Unbewussten, durch den sowohl Probleme als auch Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt werden können. Bild: Adobe Stock, Jorm Sangsorn
Die analytische Psychologie sieht Träume als Weg zum Unbewussten, durch den sowohl Probleme als auch Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt werden können. Bild: Adobe Stock, Jorm Sangsorn

Wir träumen bekanntlich jede Nacht, ob wir uns an die Träume erinnern oder nicht. Träume können daher wichtige Begleiter unseres seelischen Lebens sein. Dies haben Menschen seit über 3000 Jahren immer wieder von Neuem erlebt und festgehalten, sei dies in der altägyptischen Kultur, in der Antike, im mittelalterlichen Christentum oder in der Neuzeit.

Der Weg zum Unbewussten

Mit der Entdeckung und Umschreibung des Unbewussten durch Sigmund Freud haben die Träume im 20. Jahrhundert eine nochmals andere Bedeutung erhalten. Für Freud ist der Traum der Königsweg zum Unbewussten. C. G. Jung, der Schweizer Arzt und Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, erkennt im Träumen einen schöpferischen Vorgang.

Wir können das Träumen als einen kreativen Prozess aus uns selbst verstehen. Da der Traum gemäss Jung eine heilende und entwicklungsfördernde Wirkung hat, tragen wir folglich das Potenzial des Heilens und Entwickelns in uns selbst und damit auch die Voraussetzung, viele Situationen in unserem Leben zu verändern. In diesem Sinne schreibt Jung in seiner Autobiografie: «…fast alle Probleme, die mich menschlich oder wissenschaftlich beschäftigten, [wurden] von Träumen begleitet oder vorweggenommen […].» [1]

Eine symbolische Botschaft

Der Traum wird in der analytischen Psychologie als ein natürliches, psychisches Phänomen aufgefasst, das nicht durch einen bewussten Willensakt hervorgerufen wird, sondern sich spontan ereignet. Dennoch hat der Traum eine direkte, unmittelbare Aussage. Jung unterscheidet nicht zwischen latentem und manifestem Traum. Er sucht nicht nach dem versteckten Inhalt hinter dem Traumbild. Vielmehr enthalte das Traumbild eine symbolische Botschaft, auch eine symbolische Zustandsbeschreibung des Träumers, der Träumerin. Besonders aufschlussreich sind dabei Traumserien, die Entwicklungen aufzeigen, und Wiederholungsträume, die auf grundlegende innere Konflikte verweisen.

Verinnerlichte Erfahrungen als Komplexe

Das symbolische Verständnis erschliesst sich unter anderem aus den Komplexen. Dies sind verinnerlichte konflikthafte Erfahrungen in Beziehungen, die man in einer ähnlichen Weise immer wieder gemacht hat und die durch eine oder mehrere schwierige Emotionen gekennzeichnet sind. Machen wir im aktuellen Leben Erfahrungen, die diesen Konflikterfahrungen gleichen, reagieren wir komplexhaft: Wir verhalten uns sehr emotional, möglicherweise der Situation nicht angemessen, nehmen diese verzerrt wahr und interpretieren sie im Sinne des Komplexes. Dies geschieht grösstenteils unbewusst, jedoch können Träume dabei helfen, uns dieser Komplexe bewusster zu werden und uns dadurch selbst besser zu verstehen. Nach Jung können wir die Komplexe auch verstehen als «die handelnden Personen unserer Träume, denen wir so machtlos gegenüberstehen» [2].

Eigene Ansprüche als Bedrohung

Dies veranschaulichen einige Erlebnisse von Klientinnen und Klienten aus meiner Praxis: So etwa das Beispiel von Herrn P., der mit grossem Lampenfieber und Scham vor jedem öffentlichen Auftritt zu kämpfen hat. Er träumt: Da ist ein Superman. Er ist hinter mir her. Ich versuche, von ihm davonzukommen, setze mich auch zur Wehr. Ich habe aber keine Chance. Er folgt mir überall hin. Es besteht die Gefahr, dass er mir etwas antun könnte. Er folgt mir sogar durch den Lüftungsschacht in einen Raum.

Für Herrn P. ist es äusserst aufschlussreich, seine Angst im Traum in dieser personifizierten Art zu erleben. Der Traum hilft ihm, sich bewusster zu werden, dass er selbst in jeder Lebenssituation der Superman sein muss und damit unerreichbar hohe Anforderungen an sich stellt. Mit diesem Wissen und therapeutischer Begleitung gelingt es ihm mehr und mehr, sich von diesen Ansprüchen zu distanzieren.

Potenzial offenbaren

Ein Traum, der einen Komplex zum Ausdruck bringt, thematisiert gleichzeitig die Schwierigkeiten, die gelöst werden müssen. Der Traum bietet aber auch Ansätze zur Aktivierung des ungelebten Potenzials.

Als Beispiel dient hier der Traum von Frau T., die darunter leidet, dass sie ihr Leben vor allem negativ sieht und erlebt. Sie träumt: Ich bin in einem Raum mit einer besonders geformten Decke, darin stehen ein Bett und ein Tisch. Die Tochter zerschlägt ein hinter Glas gemaltes Bild. Die Scherben liegen am Boden, es sind farbige Glassplitter. Ich denke, daraus könnte man ein neues Bild machen. Zuerst aber fordere ich die Tochter auf, die Scherben wegzuwischen. Sie tut es nicht. Mein Mann meint, ich soll sie lassen. Die Tochter ist barfuss, ich auch.

Der Traum berührt viele Facetten von Frau T.s Leben. Auf den ersten Blick betrachtet könnte er sie dazu verleiten, ihr negatives Bild des Lebens bestätigt zu sehen. Der Gedanke im Traum, dass aus den Scherben ein neues, farbiges Bild entstehen könnte, zeigt letztlich aber grosses Potenzial für ihre zukünftige Lebensgestaltung. Nach eingehender Analyse und wiederholtem Betrachten des Traums nimmt sie das Symbol mit in ihr weiteres Leben. Sie beginnt nicht nur, ihre kreativen Fähigkeiten erneut zu pflegen, sondern findet auch immer mehr Zugang zu den positiven Aspekten und Möglichkeiten des Lebens, selbst wenn es so aussieht, als ob alles in Scherben liegt.

Der Traum als eine andere Realität

Oftmals macht das symbolische Verständnis des Traums einerseits unsere aktuellen, persönlichen Schwierigkeiten sichtbar, anderseits aber auch unsere ganz besonderen Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten.

In diesem Sinne spricht die analytische Psychologie auch von der möglichen Kompensation durch den Traum. Dabei geht es um die Selbstregulierung der Psyche: Der Traum konfrontiert die Träumerin oder den Träumer mit vernachlässigten Aspekten der eigenen Persönlichkeit, die gesehen und gelebt werden wollen, um die Seele in ein hinreichend gutes Gleichgewicht zu bringen. Der Traum schafft damit ein Gegengewicht zu einer verengten Sicht auf das Leben. Er verweist auf Themen und Emotionen, die fehlen und die integriert und gelebt werden sollten, um das Leben farbiger, reicher, sinnvoller zu gestalten.

Schlangen auf dem Kopf

Ich denke hier an den Traum eines jungen Mannes, Herrn K. Er träumt: Ich fahre mit dem Auto und suche einen Parkplatz, finde aber keinen. Schliesslich parkiere ich das Auto in der Nähe des Waldes. Ich gehe in den Wald. Da sehe ich eine grosse, rote Schlange. Sie kommt auf mich zu, ich entferne mich langsam, ohne in Panik zu geraten. Da verzieht sie sich auch. Sie geht dann aber auf einen Baum. Ich stehe unter diesem Baum und habe Angst, sie könnte auf mich herunterfallen. Auf einmal spüre ich etwas auf dem Kopf. Ich greife danach. Da sind kleine, schwarze Schlängelchen. Ich bin erschrocken und doch erleichtert. Ich kann sie wegnehmen.

Schlangen kommen nicht selten in Träumen vor. Als Tiere, die dem Menschen nicht so leicht zugänglich sind und auch sehr gefährlich werden können, weisen sie auf unberechenbare Bereiche unserer Psyche. Herrn K. würde ich eher als Kopfmenschen bezeichnen, er muss alles im Griff haben und hat auch für alles eine logische Erklärung. Dass er das Auto, das für sein mobiles Selbst stehen könnte, in der Nähe des Waldes abstellt und dann zu Fuss in den Wald geht, könnte darauf hinweisen, dass er immer mehr wagt, sich dem Unbewussten auszusetzen; hier symbolisiert durch den Wald und die Schlange, die er recht nah an sich heranlässt. Es könnte aber auch eine Aufforderung des Traums an Herrn K. sein, eben dies zu tun und damit ein Wagnis einzugehen. Die kleinen Schlängelchen, die schliesslich auf seinem Kopf landen, zeigen in einem symbolisch eindrücklichen Bild, wie der Kopfmensch mit der chthonischen innerpsychischen Welt in Berührung kommt, ohne dass dies zu viel Angst auslöst. Der Traum und das Gespräch zu diesem Traumbild lassen Herrn K. ganz unmittelbar erfahren, was es heisst, die Kontrolle des Kopfes etwas abzugeben. Immer mehr vertraut er in der Folge seinen Gefühlen und seiner Instinktseite, was sein Leben bereichert und den Schwerpunkt etwas verlagert.

Welches Ziel hat der Traum?

Es ist mir ein Anliegen, zum Schluss dieser kurzen und sehr rudimentären Ausführungen zum Traumverständnis auf die finale Ausrichtung des Traums hinzuweisen. Es kann sehr hilfreich und weiterführend sein, zu fragen: Hat der Traum ein Ziel, und was könnte das sein? Darin könnte unter Umständen auch ein übergeordneter Sinn zu erkennen sein.

Literatur

  1. Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé. Walter Verlag Olten, 1985, S. 216.
  2. C. G. Jung, Gesammelte Werke, Walter Verlag Olten, 1976, Band 8, § 202.