• Fokus: Träume

Der Traum vom ewigen Leben …

… oder die Notwendigkeit einer Kultur für gutes Altern. Warum Akzeptanz und Sinnhaftigkeit wirksamer sind als Kältekammern und Nahrungsergänzungsmittel.

Heute leben Menschen im Durchschnitt bedeutend länger als noch vor 100 Jahren. Was brauchen sie, um gut zu altern? Bild: www.freepik.com
Heute leben Menschen im Durchschnitt bedeutend länger als noch vor 100 Jahren. Was brauchen sie, um gut zu altern? Bild: www.freepik.com

Das ewige Leben als alter Menschheitstraum erfährt neuerdings unter dem Begriff «Longevity» viel Aufmerksamkeit. Leider passiert dies oft Hand in Hand mit einer Anti-Aging-Haltung, die – wenn sie sich als Diskriminierung gegen andere gesellschaftliche Gruppen richten würde – zum Glück kaum mehr salonfähig wäre.

Eine Erfolgsgeschichte in puncto Langlebigkeit

Das vergangene Jahrhundert kann als Erfolgsgeschichte in puncto Langlebigkeit betrachtet werden: Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug in der Schweiz für ein im Jahr 2023 geborenes Mädchen 85,8 Jahre, für einen im selben Jahr geborenen Jungen 82,2 Jahre – im Jahr der Einführung der AHV, 1948, betrug sie noch 69 Jahre (Frauen) bzw. 65 Jahre (Männer).

Länger gesund oder nur länger?

Bereits in den 1980er-Jahren wurde diskutiert, inwiefern dieses Mehr an Jahren auch mit einem Mehr an Leben einhergeht, frei nach dem Motto «Add life to years not just years to life». «It’s complicated!», möchte man sagen, denn das Altern ist ein komplexer, multifaktorieller und dynamischer Prozess. Wir leben nicht nur länger, sondern auch länger gesund, trotzdem erfolgen der Zuwachs an Lebenszeit sowie an gesunder Lebenszeit in unterschiedlichen Tempi. Je nach Krankheitsbild gibt es Anzeichen für Kompression (d. h. Verdichtung) als auch Expansion (d. h. Ausweitung) von Morbidität.

Vielfältige Forschungsbemühungen

Verständlicherweise – und natürlich im Grossen und Ganzen auch wünschenswerter Weise – gibt es vielfältige Forschungsbemühungen, vor allem in der biomedizinischen Forschung. Dies mit dem Ziel, Alterungsprozesse besser zu verstehen, um sie dann möglicherweise positiv beeinflussen zu können, damit Langlebigkeit nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ einen Mehrwert bringt. Doch vieles von dem, was momentan diskutiert und teils für viel Geld verkauft wird, hat aktuell höchstens den Status «potenziell interessant», stammt aus Tierstudien mit teils widersprüchlichen Ergebnissen, betrachtet einzelne Faktoren statt das grosse Ganze, und die Übertragbarkeit auf den Menschen und vor allem die menschliche Lebens- und Gesundheitsspanne ist weitgehend unklar. Dies betrifft viele Ansätze pharmakologischer Interventionen, aber auch Verhaltensinterventionen im Bereich Nahrungsergänzungsmittel, Kältekammern und anderes. Ein weiterer kritischer Punkt ist der offen altersdiskriminierende Ton, mit dem vieles im wahrsten Sinne des Wortes verkauft wird. Die Verantwortung für gesunde Langlebigkeit liegt in den meisten dieser Ansätze zudem ausschliesslich bei der Person selbst, ohne dass die zentrale Rolle der Lebensumwelt als wichtiges Interventions- (und Investment-!)feld mitgedacht wird, als lebten wir in einem Vakuum. Von sozialer Ungleichheit ganz zu schweigen, die vielen der sehr teuren Angebote quasi per definitionem innewohnt.

Lebensfreude ist wichtiger als Nahrungsergänzungsmittel

Am UZH Healthy Longevity Center erfolgen Forschung und deren Translation in die Praxis ganz im Sinne der WHO-Perspektive auf gesundes Altern, das definiert wird als funktionale Fähigkeit. Diese ergibt sich aus individuellen Merkmalen einer Person und ihren Umweltbedingungen und unterliegt naturgemäss einem dynamischen Wandel, da sowohl die Person als auch die Lebensumwelt keine statischen Grössen sind. Wichtige Aspekte funktionaler Fähigkeit sind z. B. Mobilität und soziale Eingebundenheit, Lerngelegenheiten und gesellschaftliche Teilhabe. Sie betreffen damit viele der empirisch sehr gut belegten Lebensstilfaktoren für ein gesundes langes Leben. Weniger sexy – aber diese machen rund 80 Prozent der Unterschiede in Gesundheit und Langlebigkeit aus. Wir erforschen diese ausserhalb des Labors, mittels mobiler Sensoren direkt im Lebensalltag älterer Menschen, zusammen mit Veränderungen in Hirnstruktur und -funktion, digitalen Lern- und Bildungsangeboten und innovativen Messmöglichkeiten für Stressresilienz. Auch wenn objektive körperliche Gesundheitsparameter wichtige Grundlagen für eine gelingende Mobilität und soziale Aktivität legen, ergibt sich auf Zellebene dennoch kaum der individuell erlebte (oder fehlende) Lebenssinn. Das Gefühl, in der Gesellschaft willkommen zu sein und sich einbringen zu können, ist kaum durch Nahrungsergänzungsmittel zu haben.

Subjektive Gesundheit trotz objektiven Einschränkungen

Aus einer psychologischen Alternsperspektive betrachtet, gewinnt das lange Leben seine Bedeutung daraus, Würde und Selbstbestimmtheit so lange wie möglich zu unterstützen und zu erleichtern sowie altersbedingte Chancen und Gewinne gegenüber Verlusten stärken zu können. Gutes Altern ist in dieser Perspektive explizit auch dann möglich, wenn objektive Gesundheitseinbussen vorliegen. Dass diese Gewinn-Verlust-Bilanz vielfach positiv ausfällt, zeigen nicht zuletzt die hohe Lebenszufriedenheit (und auch subjektive Gesundheit), von der ältere Erwachsene vor allem im sogenannten dritten Alter trotz zunehmender objektiver gesundheitlicher Einschränkungen berichten. Erst wenige Jahre vor dem Tod scheint es hier einen Abfall zu geben. Der Umgang mit Verlusten gelingt dabei zu einem grossen Teil durch eine aktive Gestaltung des eigenen Lebens, durch geschickte Auswahl verfolgter Ziele und durch eine flexible Anpassung der Mittel, um diese zu erreichen. Aber auch das Loslassen von Zielen und Dingen, die nicht länger erreichbar sind, gewinnt bei begrenzten Ressourcen an Bedeutung. Zur Unterstützung des individuellen Handelns und Erlebens sind jedoch altersfreundliche Gelegenheiten und Strukturen nötig, die in jedem Alter – z. B. bei zentralen Themen wie Wohnen, Mobilität und soziale Eingebundenheit – das Ausüben sinnstiftender Tätigkeiten erlauben.

«65+» – eine heterogene Gruppe

Gesundes Altern, und damit das Erleben von Langlebigkeit, ist zudem ein vielfältiges Phänomen. Ältere Menschen, z. B. ab 65 Jahren betrachtet, sind eine sehr heterogene Gruppe und durchleben eine sehr vielfältige weitere Lebenszeit mit unterschiedlichen Phasen. Viel zu häufig wird diese Vielfalt reduziert auf «65+», auf Verluste und Defizite. Engstirnig und lernunfähig, langsam aber weise, freundlich verhuscht und digital völlig unbedarft. Diese Form der Altersbilder prägt viele aktuelle Bemühungen, dem Altern und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Und doch sind es gerade positive Altersbilder, die einen empirisch gut belegten förderlichen Einfluss auf diverse Gesundheitsparameter haben – und sogar zu Langlebigkeit führen können.

Kultur des Alterns

Der bekannte Berliner Altersforscher Paul Baltes hat den Begriff einer «Kultur des Alterns» geprägt und damit Bezug genommen auf die Notwendigkeit, Rahmenbedingungen für ein möglichst gutes Altern zu schaffen, auch im stärker vulnerablen sogenannten vierten Alter. Dies bedeutet gerade nicht, das Altern mit allen Mitteln aufhalten oder sogar umkehren zu wollen, sondern neben präventiven Massnahmen, die systemisch statt nur im Klein-Klein wirken könnten und vielen Menschen zugutekommen, auch MIT altersbedingten Verlusten umgehen zu lernen. Mir scheint, dass wir diese Kultur des Alterns in einem Diskurs zur (gesunden) Langlebigkeit ganz unbedingt wieder in den Vordergrund stellen sollten.