• Auf den Punkt gebracht

Kein Freipass für Arbeitgeber

Ein Bundesgerichtsurteil hält fest, dass ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag bei Krankheit ohne Einhaltung der Sperrfrist kündigen darf – allerdings nur unter strengen Voraussetzungen.

«Bei Krankheit ist jetzt eine Kündigung möglich» – diese Zeilen prangen an einem Junimorgen gross auf der Titelseite einer Pendlerzeitung und wecken mein Interesse. Ich nehme die Zeitung zur Hand. Der Artikel informiert über das im Juni 2024 veröffentlichte Bundesgerichtsurteil vom 26. März 2024 (1C_595/2023). Es geht dabei um die Kündigung eines Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber während einer krankheitsbedingten Abwesenheit des Arbeitnehmers ohne Einhaltung der Sperrfrist.

Hinlänglich bekannt ist, dass der Arbeitgeber nicht kündigen darf, wenn eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer krank ist. Es gilt der zeitliche Kündigungsschutz, die sogenannte Sperrfrist von sechs Monaten. Erst nach Ablauf der Sperrfrist kann ordentlich gekündigt werden – unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist. Gemäss dem neuen Bundesgerichtsurteil fällt der zeitliche Kündigungsschutz bei einer «arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit» weg, sofern die betroffene Person in der Lage ist, sich eine neue Stelle zu suchen und diese auch anzutreten. Als «arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit» definiert das Bundesgericht Krankheiten, die in direktem Zusammenhang mit der Situation am Arbeitsplatz stehen. Die arbeitnehmende Person ist damit nur an ihrem aktuellen Arbeitsplatz arbeitsunfähig. Sie ist aber ohne Weiteres in der Lage, eine andere Arbeitsstelle zu suchen und diese anzutreten. Nicht von dieser Rechtsprechung erfasst sind somit zum Beispiel Fälle, bei denen es aufgrund eines Burnouts zu einer schweren Depression kommt oder gar ein Klinikaufenthalt nötig ist. In solchen Fällen ist die Sperrfrist nach wie vor zu beachten, weil die betroffene Person eben auch an einem anderen Arbeitsplatz arbeitsunfähig ist.

In der Praxis kann das Urteil dazu führen, dass beispielsweise ein Arbeitnehmer, der von einer Person am Arbeitsplatz oder gar von der vorgesetzten Person selbst gemobbt wird und deswegen erkrankt, vom Arbeitgeber ohne die Einhaltung der Sperrfrist entlassen werden kann. In diesem Zusammenhang ist wichtig, zu erwähnen, dass in einem solchen Fall zwar die Sperrfrist nicht eingehalten werden muss, der Arbeitgeber sich aber dennoch nicht so einfach aus der Verantwortung ziehen kann. Eine Kündigung als Folge von Mobbing kann nach wie vor missbräuchlich sein und die betroffene Person kann Entschädigungszahlungen geltend machen. Zudem verstösst ein Arbeitgeber gegen seine gesetzlich verankerte Fürsorgepflicht, wenn er eine Situation, die eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit herbeiführt, nicht verhindert oder sie gar begünstigt.

Ja, bei Krankheit ist jetzt eine Kündigung möglich – dies aber nur, wenn diverse, klar umschriebene und strenge Voraussetzungen erfüllt sind.

Yvonne Stadler, Leiterin Recht / stv. Geschäftsführerin vsao

Relevant für die Frage, ob eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit vorliegt oder nicht, ist das Arztzeugnis. Steht in diesem explizit «arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit», so ist der Fall nach aktueller Rechtsprechung klar. Aufgrund dieser weitreichenden Konsequenz sollte der Vermerk einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit erst nach eingehender Prüfung im Arztzeugnis angebracht werden.

«Bei Krankheit ist jetzt eine Kündigung möglich.» Ja, bei Krankheit ist jetzt eine Kündigung möglich –dies aber nur, wenn diverse, klar umschriebene und strenge Voraussetzungen erfüllt sind. «Bei Krankheit ist keine Kündigung möglich – mit einer Ausnahme.» Diese Überschrift hätte – wenn auch nicht gleich knackig – wohl besser zum neuen Bundesgerichtsurteil gepasst.