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Neuraltherapie: ein Neustart des Systems
Lange war sie umstritten, mittlerweile ist ihre Wirksamkeit wissenschaftlich belegt: Durch die gezielte Injektion von Lokalanästhetika sorgt die Neuraltherapie für eine Unterbrechung pathologischer Rückkoppelungen im Nervensystem. Ein Einblick.
08.04.2025

Die Neuraltherapie ist eine Methode, welche die regulatorischen und plastischen Eigenschaften des Nervensystems nutzt. Dabei werden Lokalanästhetika (vorwiegend Procain) individuell an verschiedene Stellen injiziert. Die Neuraltherapie kann auch diagnostisch zur Identifikation schmerzhafter oder entzündeter Strukturen eingesetzt werden.
Unterbrechungen im System
Das autonome Nervensystem koordiniert als feinstes Netzwerk alle Organe und Systeme (z. B. muskuloskelettales System, innere Organe, Immunsystem, Entzündungskaskaden, Schmerzsystem, Hormonsystem, Kreislauf usw.) und verbindet diese «Teile» zu einer Gesamtheit (Abbildung). Die Neuraltherapie wirkt unter anderem über eine Unterbrechung (ein «Reset») pathologischer Rückkoppelungen im autonomen Nervensystem und damit im neuroimmunen System, das die Chance für einen Neustart erhält. Dadurch bessern sich z. B. chronische Schmerzen und Entzündungen, denn die Desensibilisierungsvorgänge haben einen Einfluss auf das Schmerz- und Entzündungsgedächtnis. Neue Forschungsresultate platzieren die Neuraltherapie inmitten der modernen Neurophysiologie.
Vielfältige Indikationen
Sinnvoll kann eine Neuraltherapie bei Funktionseinschränkungen, Schmerzen und Entzündungen sein. Beispiele sind Probleme am Bewegungsapparat, Kopfschmerzen, Erkrankungen von inneren Organen, Autoimmunerkrankungen, Durchblutungsstörungen usw. Natürlich kann die Neuraltherapie nicht immer als alleinige Therapie eingesetzt werden. Die Reduktion des Medikamentenverbrauchs bei Anwendung der Neuraltherapie, insbesondere von Schmerzmitteln und Antibiotika, konnte jedoch in grossen Langzeitstudien nachgewiesen werden.
Injektionsorte: oberflächlich und tiefgehend
Mögliche Injektionsorte sind die Haut, myofasziale und andere Triggerpunkte, Gelenke, Sehnen, Bänder, Narben, periphere Nerven und vegetative Ganglien. Verschiedene Injektionen können individuell kombiniert werden (Abbildung).

Praxis: lokale und/oder weiter entfernte Stellen behandeln
Die sorgfältige Anamnese (frühere Ereignisse, jetzige Beschwerden) dient dazu, mögliche Belastungen in den verschiedenen Systemen zu erkennen. Es erfolgt nun eine differenzierte manuelle Untersuchung, eventuell gefolgt von einer gezielten apparativen Abklärung. Danach wird das neuraltherapeutische Prozedere festgelegt.
Manchmal wird nicht nur direkt am Ort des Krankheitsgeschehens therapiert, sondern auch an entfernteren Stellen. Historisch wurde dies von den Gebrüdern Ferdinand und Walter Huneke, den Vätern der Neuraltherapie, als sogenanntes «Störfeld» bezeichnet. Dieser Begriff hat nur noch historischen und didaktischen Wert, da er sich an der Anatomie und nicht an der Funktion orientierte. Heutzutage spricht man im Einklang mit der modernen Neurophysiologie von sogenannten «neuromodulatorischen Triggern», die sowohl lokal als auch von weiter entfernt her wirken können.
Ein Beispiel: Eine Patientin leidet an chronischen Schulterschmerzen rechts, die sich als therapieresistent auf die verschiedensten lokalen Therapien erweisen. Die Anamnese ergibt, dass die Schulterschmerzen seit einer Hepatitis bestehen. Erst die Neuraltherapie über die nervalen Rückkoppelungen (siehe Abbildung) der Leber kann die nervalen Dauerimpulse von der Leber zur Schulter «desensibilisieren» und damit Einfluss auf das Schmerz- und Entzündungsgedächtnis nehmen. Dadurch verschwinden die Beschwerden dauerhaft.
Nebenwirkungen, Komplikationen und Kontraindikationen
Das Procain hat keine Nebenwirkungen und keine Interaktionen, denn der Abbau erfolgt nicht über die Leber, sondern über die ubiquitäre Pseudocholinesterase. Eine leichte Benommenheit von wenigen Minuten nach den Injektionen ist normal. Zudem sind Blutergüsse möglich, bei falscher Injektionstechnik können auch schwere Komplikationen auftreten. Bei Blutverdünnung oder Gerinnungsstörungen ist die Neuraltherapie kontraindiziert, Allergien oder Spritzenangst wirken einschränkend.
Die Neuraltherapie im Schweizer Gesundheitssystem
Die Neuraltherapie ist eine ärztliche Tätigkeit. Seit 2011 gilt die Neuraltherapie in der Schweiz nicht mehr als Komplementärmedizin, sondern als Schulmedizin und ist im Gesetz als Pflichtleistung in der Grundversicherung verankert. Überschneidungen ergeben sich mit der diagnostischen und therapeutischen Lokalanästhesie sowie mit der interventionellen Schmerztherapie.
Resultate von Studien
Studien aus der Schweiz zur Wirksamkeit der Neuraltherapie sind auf der Website der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Neuraltherapie (SANTH) einsehbar. Auch betreffend Kosten zeigten unter anderem Dissertationen der Universität Bern ein günstiges Profil für die Neuraltherapie. Die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Neuraltherapie (WZW) ist erfüllt.
Mehr Informationen und Ausbildungsmöglichkeiten
- Schweizerische Ärztegesellschaft für Neuraltherapie SANTH
- Kurs- und Lehrbuch: Fischer Lorenz. Neuraltherapie. Neurophysiologie, Injektionstechnik und Therapievorschläge. 5. A. Thieme, Stuttgart 2019
Literaturauswahl
- Egli S et al. Long-term results of therapeutic local anesthesia (neural therapy) in 280 referred refractory chronic pain patients. BMC 2015; 15:200.
- Fischer L et al. Regulation of acute reflectory hyperinflammation in viral and other diseases by means of stellate ganglion block. A conceptual view with a focus on Covid-19. Autonomic Neuroscience 2022, 237.
- Mermod J et al. Patient satisfaction of primary care for musculoskeletal diseases: A comparison between Neural Therapy and conventional medicine. BMC 2008; 8:33.
- Resch S, Barop H, Fischer L. Neuraltherapie, in: Gaul C und Diener HC (Hrsg.). Kopfschmerzen. Thieme: Stuttgart; 2016.
- Tracey KJ. The inflammatory reflex. Nature. 2002; 420 (6917): 853–9.
- Vinjes D, Munoz-Sellart M, Fischer L. Therapeutic use of local anesthetics in pain, inflammation, and other clinical conditions: A systematic scoping review. J Clin Med 2023, 12, 7221.