• My Way

Wie fördert man Entfaltung am Arbeitsplatz, Herr Exadaktylos?

Für Aristomenis Exadaktylos, Direktor und Chefarzt der Notfallmedizin am Inselspital Bern, bedeutet gute Führung nicht Kontrolle, sondern das Schaffen von Freiräumen und Rahmenbedingungen, in denen sich sein Team entwickeln kann. Wie er dies umsetzt, verrät er im Interview.

«Ich möchte Aris Exadaktylos vorstellen, weil ich es bemerkenswert finde, wie seine Kaderärztinnen und Kaderärzte unter seiner Leitung ihre Interessen in Form von Projekten und Forschung finden und entfalten können.»

Corina Tomaschett, Trägerin Fähigkeitsausweis klinische Notfallmedizin und Redaktionsmitglied

Aris, du lässt deinen Mitarbeitenden viel Freiraum, Projektideen vorzuschlagen und sich dieser Projekte anzunehmen. Wie unterstützt du sie dabei?

In der heutigen Zeit – und die Notfallmedizin ist ein gutes Beispiel dafür – geht es immer weniger um Eminenz und immer mehr um ein gemeinsames Vorwärtskommen. Die Menschen sind viel kreativer geworden und nicht mehr so hörig wie früher. In England wurde ich von meinem damaligen Consultant gefragt: «Aris, are you a creationist or an evolutionist?» Das ist eine interessante Frage. Die meisten sehen sich eher als creationist – als Erschaffer von etwas Konkretem. Aber für eine gute Teamarbeit muss man als Chef einen Raum entwickeln, in dem sich ein gutes Team finden kann; der «Evolution» Zeit und Raum geben.

Ähnlich, wie vor Luther die Priester die Bibel in Latein von der hohen Kanzel runtergepredigt haben und die Menschen glauben mussten, was ihnen gesagt wurde, war es früher in der Medizin mit den «Göttern in Weiss». Der Chef war der Hüter des Wissens. Er wusste alles, konnte alles und gab dies von oben nach unten weiter. Heute leben wir übertragen gesehen in einer «post-lutherischen Phase». Alle Ärztinnen und Ärzte haben Zugang zu Wissen, so einfach wie noch nie zuvor. Dies erleichtert es den Mitarbeitenden, herauszufinden, was sie zusätzlich wissen und können wollen.

Meine Aufgabe als Chef ist es, mit meiner Erfahrung und mit dem Freiraum, den ich habe, diese Interessen der Oberärztinnen und -ärzte miteinander zu verknüpfen und sie zu inspirieren, selbst etwas zu kreieren. Das, was sie noch lernen oder erforschen möchten, gleicht einem Puzzlestück. Es liegt an mir als Chef, diese Stücke zusammenzufügen und gleichzeitig darauf zu achten, dass das ganze Puzzle in einen Rahmen passt und niemand zu kurz kommt. Wichtig ist dabei auch, dass das Gesamtbild, das daraus entsteht, Sinn macht – sowohl für die Betrachtenden als auch für die Notfallstation, das Inselspital und die Notfallmedizin – und sich alle Beteiligten darin wiederfinden. Hier braucht es Kompromissbereitschaft, Teamdenken und Rücksicht, manchmal auch auf Mehrheiten. Das bedeutet für mich Führung; also nicht unbedingt die Kontrolle darüber zu haben, was sie machen, sondern die Übersicht zu behalten, was am Ende herauskommt.

Wichtig ist auch, die individuellen Stärken der Teammitglieder zu finden und ihnen den Raum zu lassen, diese weiterzuentwickeln. Man sagt, dass eine gute Führungsperson die guten Leute findet und ihnen dann nicht im Weg steht. Dadurch erhalten sie das Selbstvertrauen, diesen kreativen Schritt zu gehen und Projektideen vorzuschlagen.

Inspirierende Persönlichkeiten im Fokus

Mutige Vorreiterin, empathischer Chef, charismatische Weiterbildnerin, politischer Kämpfer: Es gibt viele Eigenschaften und Rollen, die für junge Ärztinnen und Ärzte inspirierend wirken können. In der Serie «My Way» geben wir einen Einblick in die Gedanken, Erlebnisse und Lebenswege von Personen, die durch ihren Weg oder ihre Art herausstechen.

Hast du speziell inspirierte Leute ausgesucht?

Nein, ich glaube nicht. Ich bin überzeugt davon, dass alle in unserem Team besondere Talente haben und einzigartig sind. Ich glaube auch nicht, dass nur diejenigen, die Forschung machen, «besonders» sind, sondern auch jene, die ausschliesslich Klinik machen. Aber wir haben es geschafft, dass die Forschung, die einige machen, von allen mitgetragen wird.

Was tust du, um Missgunst im Team bezüglich der Konkurrenz von Projekten zu vermeiden?

Die Notfallmedizin ist ein «Hands on»-Fach, wo man sofort das Resultat sehen möchte. Dementsprechend müssen die Projekte zur Notfallmedizin passen. Das Herz der Notfallmedizin sind die Patientinnen, Patienten und ihre Versorgung. Was wir machen, nennt man auch «Versorgungsforschung». Wir schauen: Wie kann man diese Versorgung und unsere Arbeit für die Patientinnen und Patienten verbessern? Deswegen sehen auch alle in unserem interprofessionellen Team den Sinn dieser Projekte und verstehen, dass ihnen diese Forschung nützt. Dieses Verständnis macht uns als Team belastbarer und fördert den Zusammenhalt.

Zudem versuchen wir, einen «friedlichen» Wettbewerb unter den Mitarbeitenden zu schaffen. Denn natürlich sind die Mittel nicht unendlich. Wir als Team – diese Entscheide treffe ich nicht allein – müssen schauen, ob es für alle reicht oder ob wir irgendwo kürzertreten müssen, damit wir den einen oder die andere etwas mehr fördern können, weil die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie nach oben kommt, höher liegt.

Wieso brennen deine Mitarbeitenden nicht aus?

Ich glaube, in der Notfallmedizin muss man «brennen» für das, was man macht. Sonst funktioniert das nicht. Denn die Notfallmedizin ist ein Hochleistungsjob – körperlich und emotional. Die Aufgabe der Führung ist es, dafür zu sorgen, dass – wie bei einem guten Verbrenner – der Motor immer schön warm bleibt, aber nicht überhitzt. Und manchmal müssen wir die Mitarbeitenden davor zu schützen, sich zu überhitzen. Wenn ich sie immer wieder in den neuen Kampf schicke und mich gleichzeitig als Chef immer wieder abkopple, dann geht das auf Dauer nicht gut. Diese Führungsverantwortung teile ich mit verschiedenen Menschen, aber an erster Stelle mit Beat Lehmann, meinem hervorragenden Stellvertreter und Leiter des klinischen Tagegeschäfts, ohne den das Ganze nicht funktionieren würde, aber auch mit unserer Pflegeleitung Petra Fuchs.

Als Führungspersonen müssen wir bei unseren Mitarbeitenden sein – und zwar als Menschen. Wir müssen zeigen, dass wir genauso Stärken und Schwächen haben und dass wir auch sie als Menschen begreifen. Wenn sie wissen, dass wir ihnen vertrauen, fühlen sie sich wertgeschätzt. Dann gehen sie auch die Extrameile.
Zudem versuchen wir, viel von unseren Mitarbeitenden zu erfahren. Zu verstehen, wie es ihnen geht – und zwar nicht nur hier am Arbeitsplatz, sondern insgesamt, insbesondere zu Hause. Haben sie kleine oder grosse Kinder? Geht es ihnen persönlich gut oder nicht? Arbeit und Familie lassen sich vielleicht trennen, wenn man einen Job mit geregelten Arbeitszeiten und jedes Wochenende frei hat. Aber mit Früh-, Spät- und Nachtdiensten sowie verschiedentlichem Einspringen geht das nicht. Das belastet das Umfeld genauso wie einen selbst. Auch zu Hause ist die Notfallmedizin ein Teamjob.

Eine meiner Hauptaufgaben ist es somit, ein mögliches Ausbrennen vorauszusehen und zu verhindern, indem ich Hilfe anbiete, wenn jemand diese braucht. Meistens klappt es, aber leider nicht immer. Das nimmt einen sehr mit, und man macht sich Vorwürfe. Auch wir in der Leitung sind nur Menschen.

Wie kann man die Oberarztstelle in einem breiten Fach wie der Notfallmedizin als vielseitigen Entfaltungsort gestalten, damit nicht mehr Leute in die Spezialistenfächer abwandern?

Die Notfallmedizin ist sehr breit, aber nicht überall gleich tief. Viele finden nach einer Weile, dass diese Breite ihren Drang nach der Tiefe nicht ersetzt. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn sie in die Spezialistenfächer abwandern, weil die meisten mit einem tiefen Verständnis für die Notfallmedizin weggehen.

Man sucht sich die Breite und Tiefe, die man sich selbst zumuten kann. Das ist ein wichtiger Punkt in der Medizin. Viele brauchen auch eine Work-Life-Balance, die durch «Quality of Work» am Arbeitsplatz geprägt wird. Diese ist sehr stark von dem gespiesen, wie sehr ich mich selbst habe verwirklichen können und wie sehr ich zufrieden bin mit dem, was ich mache.

Die Stärke der Notfallmedizin in Hinblick auf die eigene Entfaltung ist eben diese Breite. Man kann sehr unterschiedlich damit arbeiten. Ob man auf einer Notfallstation oder in einer Praxis arbeitet – man kann sich in Themen von der Psychiatrie bis zur Traumatologie entwickeln. Wir decken Themen von der Chirurgie über die Innere Medizin bis zur Anästhesie ab. Wenn die Mitarbeitenden nach einem langen Tag nach Hause kommen und denken: «Heute war ein anstrengender Tag, aber ich bin zufrieden damit, wie ich gearbeitet habe», dann kann man die Leute auch halten.

Zur Person

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos ist in Deutschland und Griechenland aufgewachsen. Nach Abschluss seines Studiums an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg 1996 arbeitete er in der Schweiz, in Südafrika und in Irland. Seit 2013 leitet er als Direktor und Chefarzt die Universitätsklinik für Notfallmedizin am Inselspital in Bern. Während seiner Berufslaufbahn begleitete und inspirierte er viele Oberärztinnen und Oberärzte auf ihrem eigenen Weg.