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Imagination im Alltag: die Kraft der Tagträume

Mehrmals täglich schweifen unsere Gedanken ab und verselbständigen sich. Dabei sind Wunschträume und Angstfantasien besonders häufig.

Gemäss Schätzungen verbringen wir bis zur Hälfte unserer Wachzeit mit Tagträumen. Bild: Adobe Stock
Gemäss Schätzungen verbringen wir bis zur Hälfte unserer Wachzeit mit Tagträumen. Bild: Adobe Stock

Tagträume, auch bekannt als «spontane Gedankenwanderungen», «waking fantasies» oder «mind wandering», sind bewusste mentale Zustände, in denen wir von der äusseren Situation abschweifen und uns in innere Szenarien und Gedankenwelten vertiefen. Im Gegensatz zu zielgerichteten Denkprozessen sind Tagträume spontane Fantasieausflüge, die mitten in unseren alltäglichen Aktivitäten auftreten. Schätzungen zufolge verbringen wir bis zu 50 Prozent unserer Wachzeit im Zustand des Tagträumens [1], besonders dann, wenn wir gelangweilt sind [2].

Tag und Nacht

Während des Tagträumens erleben wir ein «zweites Bewusstsein», das unterschwellig aktiv bleibt und sich mit unseren Wünschen sowie Lebensproblemen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandersetzt [3]. Tagträume geschehen im Wachzustand, während nächtliche Träume, die verstärkt in der REM-Schlafphase auftreten, ausschliesslich im Schlaf entstehen. Tagträume ereignen sich spontan. Wir können sie meist erst wahrnehmen, wenn sie schon geschehen sind, und dann vielleicht «weiterspinnen», oft auch in Form eines inneren Selbstgesprächs. Nächtliche Träume sind dagegen deutlich unkontrollierbarer und überraschender.

Ein weiterer Unterschied: Während wir beim Tagträumen weiterhin unsere Umwelt wahrnehmen, bleibt dies bei nächtlichen Träumen nur in luziden Zuständen teilweise möglich. Der Unterschied zur Realität bei Tagträumen bleibt immer klar erkennbar. Anders als bei halluzinatorischen Wahrnehmungsstörungen wissen wir stets, dass es sich bei Tagträumen um unsere eigenen Gedanken und Gefühle handelt.

Themen und Muster von Tagträumen

Neben der vorausschauenden Einstellung auf Alltagsaktivitäten sind zukunftsgerichtete Wunschträume der häufigste Inhalt von Tagträumen. Menschen stellen sich vor, wen sie gern wären, was sie besitzen möchten – sei es materieller Erfolg, Liebe oder Anerkennung. Solche Träume bieten emotionale Befriedigung, indem sie imaginäre Situationen schaffen, in denen Bedürfnisse erfüllt werden, die in der realen Welt (noch) unerreichbar erscheinen. Sie dienen zudem als Motivation und helfen, persönliche Ziele klarer zu definieren.

Fast so häufig sind Angstfantasien, die sich um eigene Befürchtungen drehen: etwa das Scheitern bei wichtigen Aufgaben, soziale Ablehnung oder den Eintritt eines Unglücks.

Narzisstische Grössenfantasien betreffen die eigene Idealvorstellung – oft begleitet von überhöhten Selbstbildern. In solchen Tagträumen sehen sich Menschen als Helden, Führungspersönlichkeiten oder bewunderte Genies. Solche Fantasien fungieren als Schutzmechanismen gegenüber Minderwertigkeitsängsten und geben kurzfristig ein Gefühl von Kontrolle und Bedeutung [1, 4].

Lebensalter beeinflusst Tagträume

Kinder tendieren dazu, intensiver und spielerischer zu tagträumen. Jugendliche, die sich auf der Suche nach ihrer Identität befinden, erleben häufig Tagträume, in denen sie sich in alle möglichen Zukunftsszenarien versetzen. Diese Fantasien drehen sich um Lebensziele wie beruflichen Erfolg, bedeutende Beziehungen, Familiengründung oder Reisen. Tagträume Erwachsener hingegen sind meist pragmatischer und konzentrieren sich auf erreichbare Ziele und aktuelle Probleme [5]. Mit zunehmendem Alter lässt die Häufigkeit und Intensität des Tagträumens nach. Ältere Menschen neigen dazu, sich gedanklich eher mit vergangenen Ereignissen zu befassen als mit Zukunftsvisionen oder narzisstischen Fantasien.

Neurophysiologische Grundlagen des Tagträumens

Das Gehirn bleibt selbst in scheinbaren Ruhezuständen aktiv [6, 7]. Spontane Gedanken und Visionen haben eine wichtige kreative Funktion im menschlichen Denken und Problemlösen [8]. Das Tagträumen ist eine Aktivität im «Default Mode Network» (Ruhemodusnetzwerk) des Gehirns und ist unerlässlich für flexible, reizunabhängige Denkprozesse (stimulus-independent thought) [9]. Tagträumend koordinieren wir überraschenderweise relativ weit auseinanderliegende Hirnareale wie den präfrontalen Cortex («Regie», höhere kognitive Prozesse), die Region Precuneus unter dem Dach des Hinterkopfs (Selbstwahrnehmung, Selbstbewusstsein), Teile des Girus cinguli (emotionale Reaktionen), Teile des Scheitellappens (sensorische Wahrnehmungen) und den Hippocampus (Gedächtnisfunktionen).

Digitale Technologien vermindern Langeweile

Die ständige Nutzung digitaler Technologien hat sowohl negative als auch positive Auswirkungen auf das Tagträumen. Negative Einflüsse sind unter anderem die ständige Ablenkung, die Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne und die Unterdrückung von Langeweile, die häufig als Auslöser für Tagträume dient [10]. Auf der positiven Seite könnten digitale Technologien kreative Anregungen bieten, die allerdings nur passiv erlebt werden [11].

Eine Quelle der Inspiration

Tagträume sind wichtige Quellen kreativer Einsichten und Lösungen [12, 13]. Durch gezieltes Tagträumen lässt sich kreatives Denken fördern [14, 15]. In der deutschen Literatur, insbesondere seit der Romantik, gibt es zahlreiche Beispiele, etwa in Novalis’ «Heinrich von Ofterdingen» [16], Kafkas «Die Verwandlung» [17] oder Thomas Manns «Zauberberg» [18].

Tagträumen in der Psychotherapie

Carl Gustav Jung erkannte als erster die grosse Bedeutung der Tagträume in der Psychotherapie. Er entwickelte mit der «Aktiven Imagination» eine aktive Tagtraummethode, bei der es darum geht, einen bewussten Dialog mit auftauchenden Inhalten des eigenen Unbewussten zu führen, um diese zu verstehen und zu integrieren. Die «Aktive Imagination» fördert Individuationsprozesse, die Persönlichkeitsentwicklung und die Selbstverwirklichung [19, 20, 21].

In der praktischen Anwendung geht es darum, sich in einen entspannten, offenen Zustand zu versetzen, ähnlich wie bei einer Meditation. Aus dieser inneren Verfassung heraus lässt man Bilder, Szenen oder Figuren aus dem Unbewussten aufsteigen, ohne sie bewusst zu kontrollieren. Man beobachtet diese Tagtraumbilder oder -figuren und versucht, mit diesen etwa über imaginierte Fragen in einen Dialog zu treten. Das Ziel ist es, deren Bedeutung für das eigene Leben und das eigene persönliche Wachstum zu erfassen.

Andere Tagtraummethoden wie die Katathym-Imaginative Psychotherapie [22, 23] oder die Daydream Therapy seien hier nur beispielhaft erwähnt [24, 25, 26]. Ich bedauere sehr, dass die Möglichkeiten der Tagtraumarbeit in der Psychotherapie [27] viel zu wenig Beachtung finden!

Literatur

  1. Ayan, S. (2016). Die Vorteile des Tagträumens. In: Spektrum.de, https://www.spektrum.de/news/das-gehirn-beim-tagtraeumen/1401860.
  2. Rummel, J., Smeekens, B. A., & Kane, M. J. (2017). Dealing with prospective memory demands while performing an ongoing task: Shared processing, increased on-task focus, or both? Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition, 43(7), 1047–1062. https://doi.org/10.1037/xlm0000359.
  3. Seli, P. et. al. (2018). Mind-Wandering as a Natural Kind: A Family-Resemblances View. Trends in Cognitive Sciences, Bd. 22,6, 479–490.
  4. Kvavilashvili, L., Rummel, J. (2020). On the Nature of Everyday Prospection: A Review and Theoretical Integration of Research on Mind-Wandering, Future Thinking, and Prospective Memory. Review of General Psychology, 24(3), 210–237.
  5. Stawarczyk, D., Cassol, H., & D’Argembeau, A. (2013). Phenomenology of future-oriented mind-wandering episodes. Frontiers in Psychology, 4. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2013.00425.
  6. Smallwood, J., & Schooler, J. W. (2006). The restless mind. Psychological Bulletin, 132(6), 946–958. https://doi.org/10.1037/0033-2909.132.6.946.
  7. Smallwood, J., & Schooler, J. W. (2015). The Science of Mind Wandering: Empirically Navigating the Stream of Consciousness. Annual Review of Psychology, 66(1), 487–518. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-010814-015331.
  8. Fink, A., & Benedek, M. (2019). The Neuroscience of Creativity. Neuroforum, 25(4), 231–240. https://doi.org/10.1515/nf-2019-0006.
  9. Otti, A. et. al. (2012). «Default-mode»-Netzwerk des Gehirns. In: Der Nervenarzt, 83,1, 16–24. DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-011-3307-6.
  10. Ugese, I. J., Chinonso, U., Gandi, J. C., Shaapera, P. T., Mgbeanuli, C. C., Ubani, C. A., Sedi, P. U., Kigbu, J. G., Idoko, L., & Balarabe, M. B. (2024). Pornography Addiction in the Emerging Adults: The Role of Social Isolation, Self-Control and Stress Coping. British journal of Psychology Research, 12(1), 26–36. https://doi.org/10.37745/bjpr.2013/vol12n12636.
  11. Carr, N. G. (2010). Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert (3. Aufl.). München, Blessing.
  12. Christoff, K., Irving, Z. C., Fox, K. C. R., Spreng, R. N., & Andrews-Hanna, J. R. (2016). Mind-wandering as spontaneous thought: A dynamic framework. Nature Reviews Neuroscience, 17(11), 718–731. https://doi.org/10.1038/nrn.2016.113.
  13. Christoff, K., & Fox, K. C. R. (Hrsg.). (2018). The Oxford Handbook of Spontaneous Thought (Bd. 1). Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780190464745.001.0001.
  14. Barth, F. D. (1997). Daydreaming: Unlock the creative power of your mind. New York, Viking.
  15. Lesczynski, M., Chaieb, L., Reber, T. P., Derner, M., Axmacher, N., & Fell, J. (2017). Mind wandering simultaneously prolongs reactions and promotes creative incubation. Scientific Reports, 7(1), 10197. https://doi.org/10.1038/s41598-017-10616-3.
  16. Novalis. (1963). Heinrich von Ofterdingen. Fischer, Frankfurt a. M.
  17. Kafka, F. (1946). Die Verwandlung. In: Gesammelte Werke (S. 71–142). Frankfurt a. M., S. Fischer.
  18. Mann, Th. (2022). Der Zauberberg. Frankfurt a. M., S. Fischer.
  19. Jung, C. G., & Chodorow, J. (1997). Jung on active imagination (1. publ). New York, Routledge.
  20. Jung, C. G., & Hoerni, U. (2019). Das Rote Buch: Liber Novus (S. Shamdasani, Hrsg.; C. Hermes, Übers.; 5. Aufl.). Ostfildern, Patmos.
  21. Kast, V. (2003). Imagination als Raum der Freiheit: Dialog zwischen Ich und Unbewusstem (ungekürzte Ausg., 4. Aufl.). München, dtv.
  22. Leuner, H. (1989). Katathymes Bilderleben: Grundstufe; Einführung in die Psychotherapie mit der Tagtraumtechnik ; Ein Seminar (4., neu bearb. u. erw. Aufl.). Stuttgart, Thieme.
  23. Nohr, K., & Bahrke, U. (2018). Imagination in Kunst und Geistesleben. In: U. Bahrke & K. Nohr, Katathym Imaginative Psychotherapie (S. 221–226). Berlin, Heidelberg, Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56546-9_9.
  24. Singer, J. L. (1966). Daydreaming: An introduction to the experimental study of inner experience, (Random House studies in psychology, PP33). New York, Random House.
  25. Singer, J. L. (1976). Daydreaming and fantasy. London, Allen and Unwin.
  26. McMillan, R. L., Kaufman, S. B., & Singer, J. L. (2013). Ode to positive constructive daydreaming. Frontiers in Psychology, 4. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2013.00626.
  27. Barth, F. D. (1997). Using Daydreams in Psychodynamic Psychotherapy. Clinical Social Work Journal, Vol. 25, No. 3, 265–280.