- Fokus: Innenleben
Wenn Innenleben aufeinandertreffen: die Wirkung von Cannabis in der Psychiatrie
Pflanzliche Cannabinoide weisen ein vielversprechendes Potenzial zur Regulation von Schlaf, Stress und Emotionen auf. Erste Evidenz liegt vor. Um sie jedoch dauerhaft in der psychiatrischen Praxis zu etablieren, sind weitere aussagekräftige randomisiert-kontrollierte Studien erforderlich.
08.04.2025

Cannabis gehört zu den ältesten Heilpflanzen der Menschheit und wurde bereits vor 5000 Jahren medizinisch genutzt. Doch die Pflanze ist weit mehr als eine historische Arznei – sie enthält bioaktive Substanzen, die mit einem zentralen biologischen System im menschlichen Körper interagieren: dem Endocannabinoid-System (ECS).
Das Innenleben der Cannabispflanze: eine chemische Symphonie
Die Cannabispflanze produziert über 500 bioaktive Verbindungen, darunter Cannabinoide, Flavonoide und Terpene. Ihre Hauptproduktionsstätte sind die Trichome – winzige, harzige Drüsenhaare auf Blüten und Blättern. Cannabinoide sind für viele der pharmakologischen Effekte der Pflanze verantwortlich. Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) ist für seine psychoaktiven, analgetischen und antispastischen Eigenschaften bekannt, während Cannabidiol (CBD) entzündungshemmende, beruhigende und antikonvulsive Effekte zeigt. Neben THC und CBD enthält die Cannabispflanze weitere Cannabinoide mit potenziell therapeutischen Eigenschaften. So zeigen präklinische Studien, dass Cannabigerol (CBG) und Cannabichromen (CBC) entzündungshemmend und neuroprotektiv wirken, während Cannabinol (CBN) leicht sedierend ist und in Kombination mit THC die Schlafqualität verbessern könnte. Auch Terpene wie Linalool, Pinene, Myrcen und Limonen zeigen in präklinischen Studien entzündungshemmende, neuroprotektive und stimmungsmodulierende Effekte.
![Cannabisblütenstand und Trichome. A) Einzelner Blütenstand mit Drüsentrichomen auf Kelch- und Hüllblättern (Pfeil). B) Aufnahme gestielter Drüsentrichome, die eine Vielzahl von Sekundärmetaboliten synthetisieren und speichern. C) Übersicht ausgewählter Sekundärmetaboliten der Cannabispflanze. Bilder: [1], Abbildung: Greta Lamers.](/fileadmin/article_images/161383.png)
Das Innenleben des Menschen: das ECS als Regulator der Homöostase
Die Entdeckung des ECS in den 1980er- und 1990er-Jahren markierte einen Meilenstein der Neurowissenschaften. Das ECS ist an der Regulierung einer Vielzahl von physiologischen Prozessen beteiligt, darunter der Schmerzmodulation, Immunreaktionen sowie der Stress- und Emotionsregulation. Es besteht aus Cannabinoid-Rezeptoren (CB1, CB2), körpereigenen Liganden (Endocannabinoide) und Enzymen, die deren Synthese und Abbau steuern. CB1-Rezeptoren sind vor allem im Zentralnervensystem konzentriert, wo sie die Freisetzung von Neurotransmittern wie Glutamat und GABA modulieren. CB2-Rezeptoren sind überwiegend auf Immunzellen exprimiert und steuern dort unter anderem entzündungshemmende Prozesse. Die Endocannabinoide Anandamid (Sanskrit für «Glückseligkeit» – ein Hinweis auf seine Rolle in der Stimmungsregulation) und 2-AG wirken im Gegensatz zu klassischen Neurotransmittern als retrograde Botenstoffe: Sie entstehen postsynaptisch und hemmen präsynaptisch die Freisetzung von Neurotransmittern, wodurch sie die neuronale Erregbarkeit modulieren. Die Enzyme FAAH und MAGL steuern ihren Abbau und begrenzen die Signalübertragung.
![Das Endocannabinoid-System. A) Schematische Darstellung der Verteilung der CB1- (grau) und CB2-Rezeptoren (grün) im menschlichen Körper. B) Mechanismus der retrograden Endocannabinoid-Signalübertragung. Abbildung: Modifiziert nach [2, 3].](/fileadmin/article_images/161382.png)
Wenn die Pflanze auf den Menschen trifft: klinische Einblicke
Die präzise Regulation macht das ECS zu einer zentralen Schnittstelle für Homöostase und neuronale Plastizität – mit grossem therapeutischem Potenzial. Durch seine komplexen Signalwege reguliert es Emotionen, Kognition und andere neuronale Prozesse, wobei Cannabinoide gezielt in diese Regulation eingreifen können. THC bindet zum Beispiel an CB1-Rezeptoren im Hypothalamus und dem Nucleus accumbens – Regionen, die die Hormonregulation sowie das Belohnungs- und Motivationssystem beeinflussen. Auch in der Amygdala und im Hippocampus, die für Emotionen, Angstverarbeitung und Gedächtnis zentral sind, sind CB1-Rezeptoren vertreten. CBD hingegen wirkt nicht direkt an CB-Rezeptoren, sondern hemmt den Abbau von Anandamid und interagiert unter anderem mit Vanilloid- und Serotoninrezeptoren, was zu seinen schmerzlindernden und anxiolytischen Effekten beitragen könnte. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) bestätigen zunehmend das therapeutische Potenzial von Cannabinoiden bei psychiatrischen Indikationen. CBD kann die Amygdala-Aktivität reduzieren und so Angstreaktionen abschwächen [4–7]. Untersuchungen zur posttraumatischen Belastungsstörung zeigen Verbesserungen bei Albträumen und emotionaler Hypererregung nach THC-/CBD-Gabe [8, 9]. Auch bei chronischem Stress, etwa im Rahmen einer Burn-out-Therapie, führte CBD zu signifikanten Verbesserungen [10]. Schlaf, essenziell für die emotionale Stabilität, kann ebenfalls durch Cannabinoide moduliert werden. Studien belegen eine verbesserte Schlafqualität und erleichtertes Einschlafen nach THC-/CBD-Gabe [11–14]. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf ein therapeutisches Potenzial bei Zwangsstörungen (OCD) [15], Depressionen [16, 17] und Autismus [18, 19]. Zudem deuten Studien darauf hin, dass Cannabis eine opioidsparende Wirkung haben könnte, wodurch nicht nur Schmerzen, sondern auch die psychische Belastung durch chronische Schmerzen reduziert wird – bei gleichzeitig verringertem Risiko einer Opioidabhängigkeit.
Trotz seines therapeutischen Potenzials erfordert der medizinische Einsatz von Cannabis eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung. Im Vergleich zu Opioiden und Benzodiazepinen hat es ein günstigeres Sicherheitsprofil, kann jedoch – insbesondere THC – dosisabhängig Nebenwirkungen wie Tachykardie und Blutdruckschwankungen verursachen. Bei genetischer Prädisposition oder psychischen Vorerkrankungen kann das Risiko für psychotische Episoden erhöht sein, während CBD aufgrund seiner potenziell antipsychotischen Wirkung untersucht wird. Die Verbreitung hochpotenter Cannabisprodukte lässt zudem Bedenken hinsichtlich Toleranzentwicklung und Abhängigkeit wachsen. Zwar tritt die Cannabisgebrauchsstörung seltener und weniger schwerwiegend auf als bei Opioiden oder Alkohol, doch langfristiger THC-Konsum in hohen Dosen kann neuroadaptive Veränderungen bewirken.
Fazit: zwischen Potenzial und Forschungsbedarf
Durch ihre Interaktion mit dem ECS können pflanzliche Cannabinoide massgeblich die Regulation von Emotionen, Stress und Schlaf beeinflussen. Trotz ihres vielversprechenden therapeutischen Potenzials bleibt die klinische Evidenz jedoch unzureichend. Methodische Schwächen, wie kleine Stichprobengrössen und Heterogenität der Cannabispräparate, begrenzen die Aussagekraft vieler Studien. Grosse, gut designte RCTs mit klaren Endpunkten und standardisierten Präparaten sind daher essenziell, um den therapeutischen Stellenwert von Cannabis weiter zu definieren und eine evidenzbasierte Integration in die psychiatrische Praxis zu ermöglichen.
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